"Ballastexistenzen". Wird es nicht die Ethik eines ganzen Volkes gefährden, wenn das Menschenleben so wenig gilt?

  • Kommentar
01. Oktober 2025
Rede von Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser bei der internationalen Gedenkfeier auf Schloss Hartheim am 1. Oktober 2025

„Im Laufe der letzten Monate ist in verschiedenen Gebieten des Reiches beobachtet worden, daß fortlaufend eine Fülle von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten aus ‚planwirtschaftlichen Gründen‘ verlegt werden, zum Teil mehrfach verlegt werden, bis nach einigen Wochen die Todesnachricht bei den Angehörigen eintrifft. Die Gleichartigkeit der Maßnahmen und ebenso die Gleichartigkeit der Begleitumstände schaltet jeden Zweifel darüber aus, daß es sich hierbei um eine großzügig angelegte Maßnahme handelt, die Tausende von ‚lebensunwerten‘ Menschen aus der Welt schafft. Man ist der Ansicht, daß es um der Reichsverteidigung willen notwendig sei, diese unnützen Esser zu beseitigen.“1

30.000 „unnütze Esser“ wurden hier in Hartheim „beseitigt“. Insgesamt wurden 200.000 Menschen in den Euthanasie-Anstalten der Nationalsozialisten ermordet. Menschen, die als „lebensunwert“ galten, weil sie eine Behinderung hatten oder psychisch krank waren. „Balastexistenzen“, in der damaligen Diktion.

Das ganze Ausmaß der Vernichtung ist noch nicht bekannt, als der evangelische Pfarrer und Vizepräsident des Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, Paul Gerhard Braune, die eingangs zitierten Zeilen in seiner 12-seitigen, an Adolf Hitler gerichteten Denkschrift mit dem Titel „Betrifft: Planwirtschaftliche Verlegung von Insassen der Heil- und Pflegeanstalten“ vom 9. Juli 1940 schreibt. 

Aber dass es sich „hier um ein bewußtes planmäßiges Vorgehen zur Ausmerzung aller derer, die geisteskrank oder sonst gemeinschaftsunfähig sind“2 handelt, ist deutlich. Jedenfalls für Pfarrer Braune und, davon dürfen wir ausgehen, weitere Leitungspersonen der Inneren Mission, wie die Diakonie damals hieß. 

Am 1. Oktober 1939 setzt Hitler per Führererlass die Durchführung das Euthanasieprogramm in Gang. Anstalten werden aufgefordert, Meldebögen über ihre Pfleglinge auszufüllen und zu übermitteln. Die Datenbasis ist gelegt. Zu Jahresbeginn 1940 kommen Benachrichtigungen, dass Insassen verlegt werden.

Neun Monate nach dem Führererlass dokumentiert Paul Gerhard Braune in seiner „Denkschrift“ Zahlen, wie viele Personen aus verschiedenen Anstalten abtransportiert wurden. Zahlen von Todesfällen. Mitgeteilte Gründe für deren plötzliches Versterben. Grippe, Lungenentzündung, epileptischer Anfall. Braune verweist auf die Vervielfachung der Todesfälle, die aus Anstalten gemeldet werden. Nennt Namen der Toten. Charlotte Bobbe, Max Dreisow, Else Lenne. Nennt ihre Wohnorte. Die Nummern ihrer Urnen.

Und er nennt die Orte, woher die Todesnachrichten kamen: Landespflegeanstalt Grafeneck, Landespflegeanstalt Brandenburg, Landes-Heil- und Pflegeanstalt Waldheim, Landesanstalt Hartheim bei Linz.

„Aus der Anstalt Buch wird berichtet, dass der Jurist Günther Rottmann, geboren am 12. Juni 1906, Sohn des Oberregierungsrats Rottmann, … in Buch seit 1939 wegen Überarbeitung und Nervenzusammenbruchs, am 10. Juni dieses Jahres … ohne Wissen der Eltern, die ihn regelmäßig besuchten, nach der Landesanstalt Hartheim bei Linz verlegt wurde. (…) Auf ihre telefonische Anfrage vom 27. Juni 1940 erhielten sie die Nachricht, daß ihr Sohn am 23. Juni 1940 dort an Mittelohrvereiterung verstorben sei. Der Brief, in dem ihnen die Todesnachricht mitgeteilt wurde, enthält die gleichen Ausführungen wie alle ähnlichen Briefe, Verbrennung der Leiche wegen Seuchengefahr usw. Verschiedene andere Berliner Familien haben von ihren Angehörigen ebenfalls Todesnachrichten aus Hartheim bekommen.“ So der Bericht von Paul Gerhard Braune aus dem Juli 1940. Ein frühes Dokument des Grauens. 3

Zeugnisse des Grauens finden sich auch im Archiv des Diakoniewerks in Gallneukirchen. Briefe von Angehörigen von Menschen, die in den Häusern der Inneren Mission4 (so der damalige Name) betreut worden waren:

„Habe heute eine Postkarte von der Landesheil- und Pflegeanstalt, in Sonnenstein bei Pirna bekommen, darin mir mitgeteilt wurde, daß der kranke Johann Böckl dieser Anstalt, aus kriegswichtigen Gründen zugeführt wurde. (…) Meine Mutter kränkt sich über dies so, sie wird uns ganz krank. Sie weint den ganzen Tag, so daß wir nicht wissen was wir machen sollen. Es ist ja auch begreiflich, daß sich eine Mutter über ihr Kind, und noch dazu ein krankes, das sich nicht helfen kann und sich gefallen lassen muß was ihm angetan wird, kränkt.“5

Johann Böckl wurde am 13. Jänner 1941 aus Gallneukirchen abgeholt. Er ist einer von 64 namentlich bekannten „Pfleglingen“ im Alter zwischen 2 und 77 Jahren mit unterschiedlichsten Behinderungen und Erkrankungen, die am 13. und am 31. Jänner in die berüchtigten grauen Busse der Gekrat verfrachtet werden. Aus „kriegswichtigen Gründen“ sollen sie verlegt werden. In die Anstalt Sonnenstein bei Pirna in Sachsen, wie den Angehörigen mitgeteilt wird. Im Nachhinein. Tatsächlich bringt man sie direkt hierher nach Hartheim. Wo sie wohl noch am selben Tag ermordet werden. 

Eine von ihnen ist die Mutter von Frieda Haar, die im Februar 1941 nach Gallneukirchen schreibt:

„Es ist furchtbar bitter für uns, … [daß sie] jetzt an einen so plötzlichen Tod glauben mußte, sie war eine Deutsche Frau [und Mutter] von 5 Kindern … und jetzt wo sie alt ist, gedankenlos wurde und wir Kinder immer gesorgt haben wie es uns möglich war, so hätten wir schon auch das Recht gehabt, von unserer Mutter zu hören, was man mit ihr vor hat und sie ins Altreich kommen wird. (…) Wenn dies so weiter geht, einfach mit den alten Leuten abzufahren wenn die Kraft ausgedient hat, wir sind Deutsch bis ins innerste, aber wer dies selber ansehen und erleben muß, der denkt in manchen, manchen Sachen nach, ob dies wohl richtig Deutscher Sinn ist. (…) Lb. Schwester ich kann fast nimmer schreiben, es bricht mir das Herz, wenn ich an Mutter denke, gerade wurde angerufen die Urne kam jetzt an.“6

Der Vernichtungswille reicht in die Mitte der Bevölkerung. Erreicht auch „gute Deutsche“. Kinder von hohen Nazi-Funktionären.7  Menschen, die mitten im Berufsleben standen, bevor sie krank wurden. Alte Menschen, die Pflege brauchen.8  „Unnütze Esser“ sind sie. Wer zu nichts nutze ist, muss weg. Eine grausam utilitaristische Logik. Das Volk muss entlastet werden von „Balastexistenzen“. 

„Balastexistenzen“. Das Wort trifft mich ins Mark. Menschen als Last. Assoziationen steigen in mir hoch: Menschen, die sagen, sie wollen niemandem zur Last fallen, sie würden lieber sterben, als Pflege zu brauchen und von anderen abhängig zu sein. Politische Debatten über die Überlastung von Schulen und Sozialstaats. Die Assoziationen mögen weit hergeholt scheinen, und ich will nicht heute mit damals vergleichen – aber ich meine, Erinnerung löst Fragen aus, und Gedenkkultur bedeutet auch, uns mit Blick auf unsere Welt heute befragen (zu lassen).

Wo liegen die Belastungsgrenzen? Was kann eine Gesellschaft tragen? Was soll sie tragen? Was muss sie tragen können? Was können wir einander zumuten, ja, was sollen wir einander vielleicht sogar zumuten?

Die Frage bewegt auch Pfarrer Braune: „Wie wird es die Kraft lähmen, Schweres zu tragen, wenn man nicht einmal mehr seine Kranken tragen kann?“

Liebe Gedenk-Gemeinde,

wir sind klüger geworden. Gott sei Dank. Wir haben Lehren aus der Geschichte gezogen. Am 10. Dezember 1948 proklamiert die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. 

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Alle. Das heißt: jede und jeder einzelne. Egal, wo er geboren wurde. Egal, welcher Abstammung, Hautfarbe, Religion. Egal, ob gesund oder krank, mit oder ohne Behinderung. Jeder Mensch hat Würde. Nicht weil er nützlich ist oder etwas leistet. Sondern weil er Mensch ist.

Die Menschenrechte buchstabieren die Menschenwürde aus. Sie sagen, was garantiert sein muss, damit die Menschwürde geachtet wird. Sie sind geboren aus den Erfahrungen während des Nationalsozialismus: Nicht Balastexistenzen, sondern Würde-Träger:innen. Nicht Objekte der Vernichtung, sondern Subjekte des Rechts. Nie wieder sollen die Würde und die Rechte von Menschen aufgrund bestimmter Merkmale, die ihnen zugeschrieben werden, derart missachtet werden. Die Menschenrechte sind Ethik aus Erinnerung.

Hier liegt mit ein Grund, warum sich die die Diakonie heute mit Nachdruck für die Menschenrechte einsetzt: Sie ist sich ihrer Verstrickungen in den Nationalsozialismus bewusst. Kirche und Diakonie haben gegen sichtbares Unrecht nicht protestiert, haben geschwiegen und weggeschaut, leitende Repräsentant:innen haben den Nationalsozialismus aktiv befürwortet und kollaboriert. Die Erinnerung an dieses Versagen in der Vergangenheit ruft in die Verantwortung für die Zukunft.

Die Menschenrechte müssen immer neu im Leben gehalten werden. Die Mitglieder einer Gesellschaft müssen sagen: Ja! Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Davon sind wir überzeugt. Diese Überzeugung trägt uns. Wir wollen daher die Menschenrechte der anderen achten.

In der konkreten Umsetzung weder einfach noch konfliktfrei. Entscheidend ist die Grundhaltung: ein klares Ja zu den Menschenrechten. In ihrer Universalität und Unteilbarkeit – das ist der springende Punkt. Die Menschenreche sind unteilbar, sie gelten in ihrer Gesamtheit –  wird ein Menschenrecht nicht gewährt, stehen alle Menschenrechte infrage. Die Menschenrechte sind universal, sie gelten für alle Menschen und für jeden einzelnen Menschen – werden die Menschenrechte für eine Gruppe infrage gestellt oder aus welchen auch immer Gründen ausgesetzt, stehen die Menschenrechte insgesamt infrage. Und damit die Würde des Menschen, der Wert menschlichen Lebens.

Denn die Frage ist: Wenn man einmal beginnt – bei einem Recht oder einer Gruppe – wo wird das enden? Wo sind die Grenzen?

Das zeigt uns der Blick in die Geschichte. Hören wir zum Schluss noch einmal aus der Denkschrift von Pfarrer Paul Gerhard Braune:

„Wie weit will man mit der Vernichtung des sogenannten lebensunwerten Lebens gehen? (…) Wird man vor den Tuberkolosen halt machen? (…) Wo liegt die Grenze? Wer ist anomal, asozial, hoffnungslos krank? Wer ist gemeinschaftsunfähig?  Wie wird es den Soldaten gehen, die sich im Kampf für das Vaterland unheilbare Leiden zuziehen? (…) Es ist ein gefährliches Unterfangen, die Unverletzlichkeit der Person ohne jeden Rechtsgrundsatz preiszugeben. (…)  Wird es nicht die Ethik eines ganzen Volkes gefährden, wenn das Menschenleben so wenig gilt?9 

Fussnoten:

1: Zitiert nach: Gerhard Gäbler/Andrea Klösch (hg.), Verlegt und ermordet. Behinderte Menschen als Opfer der Euthanasie im Dritten Reich. Eine Dokumentation aus dem Diakoniewerk Gallneukirchen anläßlich des „Tag des Gedenkens für die Opfer der Euthanasie 1941“ am 25. Jänner 1991 in Gallneukirchen, Gallneukirchen 1991, 22-30; hier: S. 22.

2: Braune, zit. n. Gäbler, S. 28.

3:   Die Denkschrift diente Versuchen, auf diplomatischem und stillem Wege die Einstellung der „Euthanasie“-Morde zu erwirken, und wurde mit Begleitschreiben des Zentralausschusses für Innere Mission und der Evangelischen Kirche der Reichskanzlei übergeben. Braune selbst wird wenig später von der Gestapo festgenommen, kommt aber nach drei Monaten wieder frei, nachdem er eine Erklärung unterschrieb, „nichts mehr gegen den Staat und die Partei“ zu unternehmen.

4: Vgl. auch Günter Merz, Die Gallneukirchner Diakonie und der Nationalsozialismus, in: Jahrbuch der Geschichte des Protestantismus in Österreich Band 131, Leipzig 2015, 155-197.

5:  Gezeichnet Josef Böckl, Salzburg, 21.1.41, in: Johannes Neuhauser/Michaela Pfaffenwimmer (hg.), Hartheim. Wohin unbekannt. Briefe & Dokumente, Weitra 1992, S. 54f.

6:  Gezeichnet Frieda Haar u. meine Schwester, Weißenbach b. Liezen 18.II.41, in: Neuhauser/Pfaffenwimmer, S. 200f.

7: Etwa Greta Papesch, die Tochter von Regierungsdirektor Josef Papesch, Leiter der Hauptstelle Kultur der NSDAP Gauleitung Steiermark, vgl. Neuhauser/Pfaffenwimmer, S. 83-96.

8: Am Merkblatt zur Ausfüllung der Meldebogen waren auch senile Krankheiten vermerkt.

9: Braune, zit. n. Gäbler, S. 29.

Lesen Sie hier die Geschichte von Theodora Brik, einer Frau, die Opfer der NS-Euthanasie wurde.

Zur Geschichte von Theodora Brik

Autor:innen

Pfarrerin Dr.in Maria Moser MTh
Direktion & Geschäftsführung
Direktorin & Geschäftsführerin Diakonie Österreich