Flucht aus der Ukraine: "Wir waren glücklich, alles war gut"
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„Wir waren glücklich, alles war gut. Jetzt erst verstehen wir, was wir verloren haben!“ Neonila spricht ruhig und bedächtig. Man sieht, dass sie eine schöne und stolze Frau war - und mit ihren 75 Jahren immer noch ist. Anatoli, wie ihn alle liebevoll nennen, sitzt neben ihr und hält ihre Hand. Der Schalk blitzt aus seinen Augen, wenn er spricht. Er ist 84 und lebt mit Nila in einem Quartier für ukrainische Vertriebene des Diakoniewerks in Linz.
Die beiden stammen aus Charkiw im Nordosten der Ukraine. Sie haben eine Tochter und zwei erwachsene Enkelkinder, die in Deutschland leben. Warum sind sie nicht bei Ihnen? Nila seufzt. Die Tochter hatte im Zentrum von Charkiw gewohnt. Als die ersten Bomben auf die Stadt fielen, brachte sie sich mit den Kindern in einer U-Bahn-Station in Sicherheit. 10 Tage lang war es eisig kalt, alle hatten Covid. Am schlimmsten aber war, dass es keine Telefon- und Internetverbindung gab. Bange 10 Tage lang hatten Anatol und Neonila keinen Kontakt. Nicht zu wissen, wo die Tochter und die Enkelkinder sind, wie es ihnen geht, das war schrecklich! Danach flüchtete die Tochter und kam nach Deutschland. Anatol und Neonila blieben. Einen alten Baum verpflanzt man nicht.
Nicht zu wissen, wo die Tochter und die Enkelkinder sind, wie es ihnen geht, das war schrecklich!
Geschichte und Gegenwart
Seit 50 Jahren sind die beiden miteinander verheiratet. Neonila hat als Ingenieurin und Krankenschwester gearbeitet, Anatol hat sogar drei Studien abgeschlossen: Nachrichtentechnik, Mathematik und Sport. Dass viele Ältere in der Ukraine der Sowjetunion nachtrauern, kann er nicht verstehen. Damals war der Mangel groß, am Nachmittag waren die Regale in den Lebensmittelgeschäften oft schon leer. Dennoch waren die beiden zufrieden. Sie konnten eine Wohnung kaufen, einmal im Jahr fuhren sie in den Urlaub auf die Krim. Nach dem Ende der UDSSR meinte aber ein Nachbar: Russland wird die Ukraine nie aufgeben und sie eines Tages attackieren! Er übersiedelte in die USA - und sollte Recht behalten.
Die Angst und Unsicherheit war groß
In Charkiw herrschte am Beginn des Jahres 2022 große Angst und Verunsicherung. Russland hatte 100.000 Soldaten zusammengezogen und man ahnte, was passieren würde. Putin wartete noch auf das Ende der Winter-Olympiade in Peking, um am 24. Februar mit der „Entnazifizierung der Ukraine“, wie der russische Präsident Wladimir Putin seinen Angriffskrieg rechtfertigte, zu beginnen. Die Behauptung, in der Ukraine würden Russen verfolgt, bezeichnet Anatol als Lüge. „In Charkiw spricht die eine Hälfte der Einwohner russisch, die andere ukrainisch. Es gab keine Probleme.“
Die beiden rechneten damit, dass die Ukraine in wenigen Tagen besetzt sein würde. Es kam anders. Auch wenn russische Truppen das Umland eroberten, Charkiw konnten sie nicht einnehmen. Dennoch klopften eines Tages Regierungsbeamte an die Tür. Die Armee könne nicht mehr für den Schutz der Bevölkerung garantieren, es sei besser, die Stadt zu verlassen. Die beiden packten die Koffer und stiegen in den Bus. Es war die richtige Entscheidung. Nila zeigt auf dem Handy ein Foto ihres Hauses. In der Fassade klafft ein großes Loch. Das Stiegenhaus ist ein Trümmerhaufen.
Mit dem Bus ging es Richtung Süden nach Dnipro. Dort in einen anderen Bus. Vermutlich nicht weit, nach Polen oder in die Slowakei. Was? Der Bus fährt nach Österreich?
Ankommen in Österreich
Es ging nach Schladming. Dort hatte Hannes Stickler vom steirischen Diakoniewerk für die Vertriebenen Zimmer in Pensionen und Hotels organisiert. Anatols Augen glänzen. Hohe Berge hatten sie bisher nur auf Fotos gesehen. Die wunderbare Natur! Mit Beginn der Sommersaison wurden die Zimmer aber wieder für die Touristen gebraucht und so kamen die beiden nach Linz.
Was gefällt ihnen an Österreich? „Alles!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Hier leben Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlichen Sprachen friedlich zusammen. "Gibt es nichts, das sie stört?" Die beiden überlegen. Doch. Hier muss man oft lange auf Arzttermine warten. Das ist für alte Leute schwierig. In der Ukraine ist es schon eine Ausnahme, wenn man erst am nächsten Tag einen Termin bekommt.
Und dann folgt der Satz, den man hier so oft hört: „Trotzdem. Wir wollen endlich wieder nach Hause!“