Inklusives Recruiting im Diakoniewerk Oberösterreich: "Es ist ausschließlich bereichernd!"

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28. März 2023
Ein Kurzfilm („The Interviewer“) war Anlass für Stefan Baier, damals Leiter eines Wohnhauses für Menschen mit Behinderung, sich zu fragen, warum wir die Bewohner:innen der Einrichtungen nicht am gesamten Recruiting-Prozess beteiligen.

Recruiting bezeichnet den Prozess, qualifizierte Mitarbeiter:innen für das Unternehmen zu gewinnen. Das beinhaltet die Sichtung von Bewerbungsunterlagen, das Führen der Gespräche und die Durchführung des Kennenlerntages sowie die Entscheidung für beide Seiten. Bei inklusiven Bewerbungsverfahren sind Bewohner:innen und Klient:innen unserer Einrichtungen in diesen Prozess miteingebunden und tragen wesentlich dazu bei.

Vorbereitung und Bewerbungsgespräch

Die inklusiven Bewerbungsgespräche werden von der Führungskraft gemeinsam mit einem Menschen mit Behinderung (meistens ist es die gewählte Interessensvertretung) und dem:der Personalpartner:in geführt. Im Vorfeld des Gesprächs bedarf es einer Vorbereitung mit der begleiteten Person. Dabei werden Fragen erarbeitet und verschriftlicht, der Ablauf und die Rollen der Gesprächsteilnehmer:innen festgelegt, Verhaltensregeln besprochen und der Umgang mit vertraulichen Inhalten wie Datenschutz thematisiert. In der Vorbereitung für die Teilnahme müssen auch Faktoren wie ein geeigneter (gegebenenfalls barrierefreier) Besprechungsraum, eventuell notwendiger Transport oder Bedarf an pflegerischer Unterstützung berücksichtigt werden. Für das Gespräch selbst wird etwas Vorlaufzeit geplant, um direkt davor die wichtigsten Punkte in Erinnerung zu rufen. Während des Gesprächs wird auf leichte Sprache geachtet. Der beschriebene zeitliche und organisatorische Aufwand vor und während des Bewerbungsgesprächs und das tatsächliche Einhalten der Schweigepflicht sowie eine mögliche Überforderung sind dennoch Herausforderungen. Bisher gab es jedoch nie Probleme damit – im Gegenteil: Die Teilnahme der begleiteten Person führte immer zu einer angenehmen Auflockerung der Gesprächsatmosphäre.

Als ich von Stefan Baier gefragt wurde, ob ich bei den Bewerbungsgesprächen für die Leitung der Kunstwerkstatt dabei sein möchte, habe ich gedacht: "Meint er das ernst?". Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich das kann. Stefan hat gesagt, dass er das gut mit mir vorbereiten wird, wenn ich dabei sein möchte. Ich war anfangs unsicher, aber ich habe es mir zugetraut und habe auch Fragen gestellt, zum Beispiel: "Werden Sie als mögliche Leitung auch zu uns in die Gruppe kommen oder nur im Büro sein?". Bei meinem zweiten Bewerbungsgespräch war ich dann schon sicherer und nicht mehr so nervös.

Klaudia Weber, Interessensvertretung der Kunstwerkstatt

Kennenlernen in der Einrichtung

Nach dem Kennenlerntag in der Einrichtung werden nicht nur Rückmeldung und Einschätzung von den anwesenden Mitarbeiter:innen, sondern auch von den begleiteten Personen eingeholt. Dafür wird beispielsweise ein Foto des:der Bewerber:in auf einem Flipchart platziert und die Klient:innen können mittels Ampelsystem (roter, gelber, grüner Smiley) eine Stimme abgeben und (wenn möglich) zusätzlich eine Aussage verschriftlichen lassen. Dieses Ampelsystem wird auch in anderen Settings eingesetzt, um die Bedeutung zu erlernen. Dadurch können auch Personen ohne Lautsprache eine Bewertung abgeben. Die Rückmeldung der begleiteten Personen und der Mitarbeiter:innen dienen als zusätzliche Entscheidungsgrundlage, sie werden daher sehr ernst genommen. Die Letztentscheidung bleibt bei den Personen, die in der Personalverantwortung sind.

Stefan Baier ist damals mit dieser Idee und dem Link für den Kurzfilm auf mich zugekommen. Wir haben nach einem kurzen Gespräch sofort beschlossen: Wir machen das! Ich kann sagen, es war ausschließlich bereichernd. Sowohl für mich als Personalpartnerin als auch für den gesamten Auswahlprozess. Es sind dann mehrere Leitungen auch dem Beispiel gefolgt. Durch Corona wurde die Entwicklung leider etwas gestoppt - wir möchten dies nun wieder neu forcieren.

Birgit Katzmaier, Personalpartnerin

Große Erfolge

Inklusives Recruiting ermöglicht nicht nur Teilhabe, sondern stärkt auch die Selbstbestimmung der begleiteten Personen. Im Bewerbungsgespräch eröffnen sich zusätzliche Blickwinkel. Wie verhält er:sie sich in dem ungewohnten Setting? Differenziert der:die Bewerber:in im Umgang mit der Führungskraft und der begleiteten Person? Stellt er:sie auch Fragen an die begleitete Person?

Infolge der Vorbereitungen und Gespräche wurde eine zum Teil starke persönliche Entwicklung bei den bisher beteiligten begleiteten Personen wahrgenommen. Ihr Selbstvertrauen wuchs auch in anderen Lebensbereichen und die Vertrauensbasis zwischen Leitung und begleiteter Person wurde gestärkt. 

Ich durfte inzwischen mit einigen von uns begleiteten Personen gemeinsam Bewerbungsgespräche führen und bin immer wieder aufs Neue begeistert, wie souverän sie diese durchaus herausfordernde Situation (ohne entsprechende Ausbildung und Vorerfahrung!) meistern und dabei oft ein unglaubliches Gespür für Menschen zeigen.

Stefan Baier, Regionalleitung Behindertenarbeit Oberösterreich