Gutes Leben mit Demenz

  • Pressemitteilung
24. März 2016

Diakonie stellt Argumentarium für Bewusstseinsbildung vor und fordert Umsetzung und Finanzierung der Demenzstrategie des Bundes



„Exklusion und Inklusion von Menschen mit Demenz beginnt in unseren Köpfen", so der evangelische Theologe und Direktor des Instituts für öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie (IöThE), Ulrich Körtner, bei einer Pressekonferenz am Gründonnerstag, bei der die Diakonie Österreich ein „Argumentarium" zum Thema Demenz vorstellt.



„Mit dem Argumentarium wollen wir tiefer graben, grundsätzlicher fragen", sagt Diakonie-Direktor Michael Chalupka. Zweifelsohne gehöre Demenz zu den großen gesundheitspolitischen Fragen unserer Zeit – derzeit leben geschätzte 130.000 Menschen in Österreich mit Demenz, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 260.000 sein. „Die Regierung hat in ihrer Demenz-Strategie gute Handlungsoptionen formuliert. Jetzt brauchen wir einen Fahrplan zur Umsetzung, Finanzierung und Evaluierung." Insbesondere die Länder seien hier beim Ausbau adäquater Dienstleistungen gefordert. Die Lücke zwischen der auf wenige Stunden begrenzten Hauskrankenpflege und der 24-Stundenbetreuung müsse geschlossen werden. Derzeit stünden viele Menschen noch vor der Entscheidung Pflegeheim oder 24-Stundenbetreuung, da es an Tagesbetreuungstrukturen oder Möglichkeiten der Begleitung im Alltag fehle.



„Gleichzeitig braucht es, auch laut Demenzstrategie, mehr Bewusstseinsbildung", so Chalupka weiter. Dazu wolle man mit dem Argumentarium beitragen. Es richtet sich an Angehörige von Menschen mit Demenz, aber an Mitarbeitende in Betreuung und Pflege sowie an die breitere Öffentlichkeit. „Das Argumentarium streicht vor allem soziale und ethische Aspekte heraus. Es ist wichtig, Demenz nicht nur als Krankheit zu sehen."



Denn: Sowohl Betroffene als auch Angehörige erfahren Demenz, wie das Argumentarium darstellt, „in hohem Ausmaß als soziales Schicksal und leiden weniger an der Erkrankung selbst als unter negativen Erwartungshaltungen, Isolation und Ausgrenzung."



„Über Menschen mit Demenz wird oft in ihrer Anwesenheit in dritter Person gesprochen, so als wären sie nicht da", führt Maria Katharina Moser, Autorin des Argumentariums und wissenschaftliche Referentin des IöThE aus. „Man glaubt, sie kriegen eh nichts mit. Aber das stimmt nicht. Sowohl Studien als auch die Erfahrungen, die wir in Einrichtungen der Diakonie machen, zeigen, dass Menschen auch in fortgeschrittenen Stadien der Demenz Alltagssituationen differenziert wahrnehmen und ihre Gefühle und Wünsche zum Ausdruck bringen. Wir übersehen das, weil wir glauben, was den Menschen ausmacht, sind Rationalität und kognitive Fähigkeiten. Und dann sprechen wir von Demenz als Persönlichkeitsverlust oder Abschied vom Ich. Personale Identität ist aber mehr als kognitive Fähigkeiten. Zum Kern der Person gehören auch Emotionen, Beziehungen, kommunikative und soziale Qualitäten und unser Leibgedächtnis – das, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist: vertraute Umgangsformen, Gerüche, Geschmäcker, Bewegungen."



„Demenz stellt das Menschenbild und die Werte unserer Leistungs- und Wissensgesellschaft massiv in Frage", betont Körnter. „Wer die Fähigkeit zur Wissensproduktion, zum Wissenserwerb, zur Wissensspeicherung und zur Wissensvermehrung verliert, wird aus der Wissensgesellschaft ausgeschlossen. Sein Leben erscheint nicht nur wert-, sondern auch würdelos."



In der Praxis



In der Praxis komme es darauf an, Menschen mit Demenz darin zu bestärken und zu fördern, Dinge selbst zu machen, erklärt Silvia Bounenicek, Leiterin der „Tagesbetreuung für Menschen im Alter" des Diakoniewerks in Wels. Wichtig sei auch der Faktor Gemeinschaft, auf den die Diakonie großen Wert lege. „Wenn Menschen mit Demenz miteinander Spaß haben, wenn sie Wertschätzung durch die MitarbeiterInnen der Tagesbetreuung erfahren, wenn sie hören, dass es jemandem leid tut, wenn sie am Vortag z.B. nicht gekommen sind, erfahren sie eine Steigerung ihres Selbstwertes, und fühlen sich als Person angenommen. Und darum geht es. Das ist es, was die Lebensqualität für die Menschen erhöht und erhält."



Publikationsreihe Argumentarium



Mit der Publikationsreihe „Argumentarium" (hier zu finden) greift das IöThE gesellschaftlich virulente, ethische Fragen auf, stellt Diskurse und Argumente vor und kommentiert sie aus evangelischer Perspektive. Das Argumentarium will Orientierung bieten und zur persönlichen ethischen Meinungsbildung anregen.



Lesen Sie in diesem Heft mehr über





die gesellschaftliche Interpretation und Bewertung von Demenz

die Frage, was Lebensqualität und Selbstbestimmung angesichts kognitiver Einbußen bedeuten und wie Lebensqualität und Selbstbestimmung von Menschen, die mit Demenz leben, gefördert werden können

ethische Konfliktfälle (Inklusion durch gute Wohnformen für Menschen mit Demenz, gute Pflege, Sondenernährung).





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