An der Bosnischen Nordgrenze zur EU sitzen Geflüchtete sprichwörtlich in der Falle
- Analyse
In der Nähe der bosnischen Stadt Bihac hat die EU in Lipa ein potemkinsches Dorf errichtet. Das Containerdorf macht einen sehr aufgeräumten, fast cleanen Eindruck. Es gibt keinen Stacheldraht, die Menschen, die dort leben, haben jederzeit Ausgang. Eine Anbindung an den öffentlichen Verkehr gibt es aber nicht. Verglichen mit anderen europäischen Flüchtlingslagern schaut das Camp in Lipa sehr gepflegt aus. Die Plätze vor den Wohncontainern sind gepflastert. Es gibt sogar einen kleinen Spielplatz und einen Aufenthaltsraum für Jugendliche. Trotzdem wirkt das Lager seltsam trostlos, im Aufenthaltsraum für die Jugendlichen gibt es nichts außer einem Tisch und ein paar Stühlen. Wie zum Hohn hat jemand auf eine weiße Tafel „World Mental Health Day“ geschrieben. Weder vor den Wohncontainern noch im Bereich der Jugendlichen, gibt es Leben, die Schaukel am kleinen Spielplatz wird nur vom Wind bewegt. Ein Blick in einen Wohncontainer offenbart keine Wohnlichkeit, hier hängt kein Foto an der Wand, liegen keine persönlichen Gegenstände.
Im Lager Lipa gibt es kein Lagerleben, auch kein improvisiertes, wie man es aus praktischen allen Flüchtlingslagern der Welt kennt.
Es ist eine Wartehalle. Aber warten worauf?
Das Lager Lipa ist bestenfalls ein Ort zum Überwintern, zum Regenerieren von den Verletzungen nach den gewaltsamen Pushbacks durch die kroatische Polizei und zum Kraft sammeln für den nächsten Versuch die Grenze nach Kroatien zu überwinden. Das Lager liegt in the “middle of nowhere”. Wer versuchen will, über die Grenze im Norden nach Europa weiterzukommen, wird immer wieder versuchen müssen, sich in Grenznähe aufzuhalten. Lipa ist dafür zu weit weg.
Kroatien ordnet die Pushbacks systematisch an
Während Bosnien, das seit Dezember 2022 EU-Beitrittskandidat ist, kaum funktionierende Asylstrukturen besitzt, blockiert Kroatien den Zugang zu einem Asylverfahren innerhalb der EU aktiv durch rechtswidrige Pushbacks.
Was Geflüchtete und Helfer:innen berichten, ist brutal: Wenn Flüchtlinge die Grenze zu überschreiten versuchen, werden sie bedroht und geschlagen. Auch dann, wenn sie um Asyl bitten. Smartphones, Geld, Schuhe und Kleidung werden konfisziert, oft verbrannt. Viele Betroffene sprechen von Folter, mindestens aber von grausamer und erniedrigender Behandlung.
Beobachter:innen vor Ort schildern, dass Pushbacks nicht nur geduldet, sondern offenbar gezielt angeordnet werden. Allein rund um Bihać kommt es nahezu täglich zu gewaltsamen Zurückweisungen an der Grenze. Eine Gruppe junger Sudanesen hat uns bei unserem Besuch in Bihać berichtet, in den Fluss getrieben und mit dem Erschießen bedroht worden zu sein. Ein 15-jähriger Geflüchteter erzählt, wie kroatische Beamte ihn getreten und um sein Geld gebracht hätten, bevor sie ihn zurück nach Bosnien schickten.
Immer wieder finden sich in Bosnien Menschen, die zuvor schon in Slowenien waren. Sie wurden offenbar per Ketten-Pushback hinter die EU-Außengrenze gebracht. Wer verletzt und traumatisiert nach Lipa kommt, muss sich erst erholen, bevor er erneut versucht, die Grenze zu überqueren. Denn eine Alternative gibt es nicht: In Bosnien bleiben können sie faktisch nicht.
Bosnien – Asyl nur auf dem Papier
Seit 2016 existiert zwar ein Asylgesetz in Bosnien und Herzegowina, doch Zugang zum Verfahren gibt es praktisch nicht. Nur in der Hauptstadt Sarajevo kann man einen Antrag stellen, doch das ist zu weit entfernt für viele, die in Grenznähe festsitzen. Staatliche Informationen fehlen, Aufklärung übernehmen maximal UNHCR und NGOs. Das Resultat: In Bosnien werden weniger als 200 Asylanträge pro Jahr bearbeitet und das aber bei rund 20.000 registrierten „Migrations-Bewegungen“.
Während die EU Millionen in Grenzsicherung und Kontrolle investiert, fehlt es am Aufbau funktionsfähiger Asyl- und Integrationsstrukturen. Lipa mag modern wirken – aber es bleibt ein Wartesaal ohne Perspektive.
Europa schaut weg
Trotz unzähliger dokumentierter Fälle, Medienberichte und NGO-Warnungen ändert sich seit Jahren nichts. Die Pushbacks gehen weiter, Beobachter:innen ziehen sich inzwischen aus dem Grenzgebiet zurück und ziehen weiter zu anderen Auswüchsen des europäischen Außengrenzschutzes. Öffentlichkeit und Politik gewöhnen sich an das Unrecht. Damit stabilisiert EU-Politik eine rechtsfreie Zone an ihren Außengrenzen.
Die Haltung der EU-Kommission ist unverständlich. Sie geht nicht gegen die rechtswidrigen Pushbacks Kroatiens vor. Wenn aber gewollt ist, dass die Flüchtlinge in Bosnien bleiben, brauchen sie dort eine Perspektive. Der weitere Ausbau des Lagers Lipa ist jedenfalls keine.
Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen
Die Gewalt an der EU-Außengrenze ist kein Betriebsunfall, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen – und politischer Unterlassung. Wer wegschaut, akzeptiert sie. Eine humane Migrationspolitik beginnt nicht an Stacheldrahtzäunen, sondern mit der Anerkennung von Menschenwürde. Ein Schutzsystem in Bosnien könnte zeigen, dass Sicherheit, Solidarität und Rechtsstaat keine Gegensätze sind.
Was jetzt nötig wäre
1. Sofortiges Ende illegaler Pushbacks.
Menschen, die um Schutz bitten, müssen ein Asylverfahren erhalten – das ist europäisches Recht. Gewalt gegen Schutzsuchende ist niemals legitim.
2. Aufbau eines echten Asylsystems in Bosnien.
Es bräuchte dringend ernsthafte Bemühungen Europas, in Bosnien ein funktionierendes Asylsystem aufzubauen, und den Menschen dort eine Perspektive zu geben. Nicht für alle in Bosnien gestrandeten Flüchtlinge ist das Ziel ihrer Flucht die EU. Viele würden wohl auch gerne in Bosnien leben, wenn sie eine Perspektive hätten. Doch dafür bräuchte es ein funktionierendes Asylsystem, das ihnen ein Leben in Sicherheit ermöglicht.
Mit EU-Unterstützung könnten Registrierungsstellen, Verfahren, Integrationsangebote und Rechtsberatung entstehen. Ein funktionierendes System wäre ein Gewinn für Bosnien, die EU und die Geflüchteten selbst.
3. Humanitäre Unterstützung ausbauen.
Vor Ort arbeiten Freiwillige unter schwierigsten Bedingungen. Die Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt ein Küchenprojekt des Roten Kreuzes von Bihac. Dort kochen Geflüchtete selbst und das Essen wird an Bedürftige verteilt. Das können sowohl Geflüchtete auf der Balkanroute sein, aber auch arme Familien in Bihac. Das stärkt den Zusammenhalt. Die hilfsbereite Bevölkerung und bedürftige Menschen dürfen sich nicht auseinanderdividieren lassen. Das Projekt macht Mittel beim Roten Kreuz in Bihac frei, das dann seine unverzichtbare Arbeit bei der Erstversorgung von Menschen nach den Pushbacks aufrecht zu erhalten.
Mehr zum Küchenprojekt in BihacAutor:innen
Mag. Christoph Riedl
Grundlagen & AdvocacySozialexperte Migration, Asyl, Integration, Menschenrechte