Corona: Familien jetzt nicht allein lassen
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Ängste von Kindern, Probleme beim Lernen, auffälliges Verhalten, Selbstverletzungen, Überforderung – all das sind sonst auch Themen in der Erziehungs- und Familienberatung der Diakonie Zentrum Spattstraße in Linz. Die Corona-Pandemie wirkt aber wie ein Brennglas. Sie macht Probleme noch deutlicher sichtbar, verdichtet sie und macht sie brisanter und dramatischer. Umso wichtiger ist es, dass jemand da ist, der zuhört und die Zuversicht stärkt. Irene Hanke und Carina Zweiner, beide Psychologinnen und Familienberaterinnen in der Diakonie, erzählen von ihren Erfahrungen.
Jugendliche, die das Alleinsein nicht mehr aushalten
Normalerweise helfen soziale Kontakte und das Erleben von Verbundenheit über Krisenzeiten im Leben hinweg. Jetzt hingegen erleben viele Jugendliche aber auch Erwachsene ein starkes Gefühl von allein gelassen sein und Einsamkeit. Paul ist 15 Jahre und möchte eine Lehre als Elektriker machen. Jetzt ist er im letzten Schuljahr. Mit dem Alleinsein und dem Homeschooling kommt er nicht gut zurecht. "Ich bin den ganzen Tag lang allein in meinem Zimmer. Es ist nicht leicht, mich zu motivieren. Meine Eltern können mir auch nicht helfen und ich will das auch nicht. Aber ich komm nicht mehr mit beim Unterricht. Deshalb will ich auch nicht mehr in die Schule gehen. Mir fehlen meine Freunde. Ich halte das allein sein nicht mehr aus. Wenn das noch lang so weitergeht, dreh ich durch."
"Wir erleben vermehrt Kinder und Jugendliche, die im Homeschooling den Anschluss verloren haben. Ihnen fehlen der direkte Kontakt und die Motivation, die das Zusammensein mit Gleichaltrigen und die Struktur des Schulalltags mit sich bringen. Sich selbst zu strukturieren ist für viele überfordernd. Das hat zur Folge, dass manche nicht mehr in die Schule wollen – um sich dem Gefühl des Versagens nicht aussetzen zu müssen. Zugleich leiden sie an der Einsamkeit," weiß Irene Hanke.
Jugendliche, die nicht mehr aus dem Bett kommen
Wir erleben Jugendliche in einer ganz eigenartigen Lebenssituation. Die 16-jährige Laura bringt es auf den Punkt: "Ich schlafe im Bett und frühstücke im Bett. Wir haben nicht viel Platz in der Wohnung, also sitze ich auch beim Distance-Learning im Bett. Und wenn ich abends Filme schaue oder mich virtuell mit Freundinnen treffe, sitze ich wieder im Bett. Ich hab das Gefühl, ich kann mich gar nicht mehr bewegen und überhaupt schwer zu etwas aufraffen." Für Familienberaterin Carina Zweiner ist es daher kein Wunder, dass psychosomatische Symptome bei Jugendlichen stark steigen: "Haltungsschäden, Schlafstörungen, Schmerzen, Essstörungen usw. nehmen zu."
Im Gegensatz zu jüngeren Kindern sind 15-20-Jährigen häufig den ganzen Tag alleine zu Hause. "In der Lebensphase, in der sich entwicklungspsychologisch betrachtet Jugendliche von den Eltern abnabeln, müssen sie nun zu Hause bleiben. Altersgerecht wäre es jedoch, jetzt Leute kennenzulernen und sich zu erproben", beschreibt Irene Hanke.
Familien, denen das zwangsweise zusammen sein zu viel wird
Familien sind es nicht gewohnt, so eng und viel zusammen zu sein. Über manchen breitet sich eine Art Endzeitstimmung aus, die schwer zu durchdringen ist. "Normalerweise kann so mancher Konflikt ruhen, während die Eltern ihren eigenen Beschäftigungen nachgehen und die Kinder in der Schule sind. Jetzt begegnet man sich zwangsweise viel mehr", so Hanke. Den ersten Lockdown haben viele Familien noch wohltuend erlebt. Sie sind gestärkt aus einer Phase mit weniger Termindruck hervorgegangen. Nun nagen die Dauer, das Gefühl des Eingesperrt-Seins, die ungewisse Zukunft und die häufiger werdenden Konflikte stark an den Nerven. Es macht sich Resignation breit und es ist auf Dauer schwer, mit der Ungewissheit umzugehen.
In diesen Phasen ist die Perspektive von außen hilfreich: "Wenn mir wer von außen zutraut, dass ich was schaffe, dann kann ich es auch leichter schaffen. Zutrauen stärkt das Selbstvertrauen. Eltern dürfen auch was falsch machen. Wichtig ist, dass sie dann darüber reden und sagen, Du das war nicht okay von mir, es ist mir so und so ergangen. Mir ist es wichtig, Zuversicht in ein Gespräch zu bringen. Ich erlebe, wie Hoffnung in einer echten Begegnung wachsen kann. Die Menschen fühlen sich nachher erleichtert und bestärkt."
Die Gesundheit leidet bei Kindern und Eltern
Kleinkinder und Volksschulkinder finden noch leichter einen Umgang mit der aktuellen Situation, mit dem Tragen von Masken und mit den eingeschränkten Kontakten, als Jugendliche. Trotzdem nehmen auch bei ihnen die Ängste zu. Die Kinder spüren die Verunsicherung der Eltern und die gesamtgesellschaftliche Verunsicherung. Sie werden selbst unsicher und das äußert sich nicht selten im Verhalten. Kinder klagen dann mehr über körperliche Symptome wie Bauchweh oder Kopfweh. Sie wollen wieder öfter bei den Eltern schlafen. Manche entwickeln Schulangst.
Frau D. versucht, ihren Job, die Betreuung ihres dreijährigen Sohnes und die Unterstützung ihrer 9-jährigen Tochter beim Lernen zu Hause unter einen Hut zu bringen. Das ist schwierig und geht auf die Substanz: "Ich stehe morgens um 4 Uhr auf und arbeite bis 7 Uhr. Dann wecke ich meine Tochter, deren Unterricht um 8.00 Uhr beginnt. Sie geht in die Volksschule und kommt alleine mit dem Homeschooling nicht zurecht. Da kann ich die Arbeit einmal bis Nachmittag vergessen. Mein Mann hat es da leichter, der arbeitet im Büro. Ich komme erst am Abend wieder zum Arbeiten im Home-Office, da bin ich meistens schon sehr müde."
Carina Zweiner beobachtet das jetzt häufig: "Viele Eltern verschieben und verkürzen ihre Schlafenszeiten. Sie stehen früher auf und gehen später zu Bett, um möglichst alles erledigen zu können, was Job, Homeschooling und Kinderbetreuung erfordert. Paarthemen verschwinden vom Tisch und die eigene Gesundheit leidet darunter."
"Wir erleben vermehrt Kinder und Jugendliche, die im Homeschooling den Anschluss verloren haben."
"Ich stehe morgens um 4 Uhr auf und arbeite bis 7 Uhr. Dann wecke ich meine Tochter, deren Unterricht um 8.00 Uhr beginnt (...) Ich komme erst am Abend wieder zum Arbeiten im Home-Office, da bin ich meistens schon sehr müde."
Persönliche Beratungsgespräche und heilsame Beziehungen
Der Druck ist groß. Oft genügen aber auch kleine Impulse von außen, um die Situation wieder zu entspannen.
- Tagesablauf planen
- Pausen machen
- Soziale Kontakte aufrechterhalten
- Miteinander reden
- Kraft tanken
- Störungsfreie Zeiten vereinbaren
- Hilfsangebote nutzen
"Für viele Menschen ist es auch hilfreich zu hören, dass sie damit jetzt nicht alleine sind und es vielen so geht. Hilfreich ist es auch, nicht die ganze Pandemiezeit wie einen Berg vor sich zu sehen, sondern einen Tag nach dem anderen zu meistern," so Zweiner.
Hilfe im Krisenfall:
Für Menschen in Krisensituationen und ihre Angehörige gibt es Anlaufstellen.
Unter www.suizid-praevention.gv.at findest du Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.
Telefonische Hilfe gibt es auch bei:
Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr): 01/313 30
Kriseninterventionszentrum (Mo-Fr 10-17 Uhr): 01/406 95 95, kriseninterventionszentrum.at
Rat und Hilfe bei Suizidgefahr 0810/97 71 55
Sozialpsychiatrischer Notdienst 01/310 87 79
Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos): 142
Rat auf Draht (0-24 Uhr, für Kinder & Jugendliche): 147
Sorgentelefon für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Mo-Sa 14-18 Uhr, kostenlos): 0800/20 14 40
Gesprächs- und Verhaltenstipps: bittelebe.at