Die Rolle der Expertinnen und Experten im Sozialbereich

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19. Mai 2021
Überlegungen von Gemeinwesen- und Sozialraum-Experte Reinhold Medicus zu den Vorteilen, die die Soziale Arbeit aus dem Sozialraum-Orientierungs-Ansatz ziehen kann.

In den letzten Jahrzehnten erlebte der Bereich der Sozialen Arbeit zwei große Trends: Eine Spezialisierung und eine Professionalisierung. Was heißt das konkret? Heute gibt es nicht mehr „den Sozialbereich“, sondern verschiedenste Teilgebiete, für die die jeweiligen Spezialist:innen mehrere Jahre lang (und immer öfter auch akademisch) ausgebildet werden.

Es ist unumstritten, dass diese Entwicklung einen großen Teil zur Qualität im Bereich der Sozialen Arbeit beigetragen hat. Professionelle Soziale Arbeit ist heute klar unterscheidbar von Nachbarschaftshilfe oder Engagement in der Familie. Und auch das Ansehen der Sozialberufe in der Gesellschaft mag durch diese Entwicklungen gewachsen sein.

Das Ganze hat aber auch zwei Nebeneffekte. Einen davon beleuchtet mein Kollege Hannes Schindler im Artikel: „Was Mitentscheidung bei Bauprojekten bedeutet“.

Anrainer:innen und Bewohner:innen, deren Meinung z.B. bei einem Bauprojekt in der Nachbarschaft einbezogen werden soll, erwarten von den Expert:innen im Sozialbereich, dass diese ihnen sagen sollen, was für sie richtig ist. Sie selbst wollen sich eigentlich gar nicht zu stark einbringen. Denn diese Expert:innen haben das ja schließlich gelernt. Diese Haltung der Menschen kann uns, die wir im Sozialbereich tätig sind und Partizipation ernst nehmen wollen, durchaus fordern.

Sozialarbeiter:innen - Profis in Problemlösung?

Wenn ich an viele andere Situationen denke, merke ich allerdings: Gleichzeitig erzeugen wir selbst noch oft genau diese Falle. Bei Gesprächen, in denen eine Person ein Problem an uns heranträgt (ganz egal ob in der Quartiersarbeit, in einem Jugendzentrum, in einer Beratungsstelle oder beim case management für die Pflege) werden wir meist unbewusst genau zu diesen Expert:innen, die die Menschen an der Stelle erwarten.

Wir haben oft schon vor einem Beratungsgespräch die Lösung im Kopf. Denn wir kennen ja aus unserer Berufserfahrung ähnliche Fälle, wir wissen genau, was diesen Personen helfen könnte, welche Angebote es in der Region gibt, wie sie bei Menschen in vergleichbaren Lebenslagen gewirkt haben, was sie kosten und wie man sie beantragt.

Da gibt es die Dienstleistung A, die hilft hier sicher gut weiter. Dann geben wir noch einmal im Monat Angebot B dazu, perfekt. Wir werden wissende, fähige Spezialist:innen, die mit ihren Fachkenntnissen ein Problem für jemand anderen lösen. Das führt dazu, dass wir eine Person, die Unterstützung will, „nur“ mehr beraten, welche Möglichkeiten es gibt. Wir sprechen Empfehlungen aus, wir schnüren Pakete. Und in vielen Fällen nehmen die Menschen diese ja auch gerne an.

Wer nicht alles weiß, muss fragen

Aber ganz ehrlich: Ist das nicht alles „Ware von der Stange“, die wir hier anbieten? Eigentlich wäre es doch sinnvoller, nicht alles schon im Vorhinein zu wissen. Denn wer nicht alles weiß, muss fragen.

Sozialraumorientierung ist eine extrem komplexe, oft recht theoretische Herangehensweise. Aus meiner Sicht lässt sich sehr vieles davon lebensnah umsetzen, wenn wir mehr fragen. In der Praxis haben sich hier drei Fragen bewährt:

  1. Wie wollen Sie ganz konkret leben, was ist Ihnen persönlich wichtig?
  2. Was können Sie selbst dazu beitragen?
  3. Was kann Ihr persönliches Umfeld, Ihr Partner, Ihre Nachbarin, usw. beitragen?

Die Menschen und ihre Ziele im Fokus

Und danach können wir immer noch Expert:innen sein, und das, was noch offen ist, um das von der Person selbst definierte Ziel zu erreichen, mit professionellen Angeboten ergänzen. So stehen die Menschen und ihre Ziele im Fokus, und nicht die vorhandene Angebotspalette.

Es sind nur ein paar kleine Schritte, aber so kommen wir zu einer ganz neuen Herangehensweise in der Sozialen Arbeit.