EU Asyl- und Migrationspaket: Die Humanitäts-Ampel steht auf Rot

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24. September 2020
Noch mehr Schutz für Grenzen. Aber wer schützt die Menschen?

Die derzeitige Situation für Geflüchtete in Europa ist wie folgt:

Menschen, die bereits in Sicherheit und in Flüchtlingscamps untergebracht waren, werden bei Nacht und Nebel aus ihren Betten gezerrt und mit manövrierunfähigen Schlauchboten auf dem offenen Meer ausgesetzt. Sie werden ihrem Schicksal überlassen. (Das berichtet Samuel Schumacher mit Bezug auf die New York Times.)

Kroatische Polizisten prügeln schutzsuchende Menschen zurück nach Bosnien.

Menschen ertrinken im Meer, ihre Hilferufe setzen keine Rettungskette in Bewegung.

Die herzzerreißenden Bilder aus dem abgebrannten Moria führen nicht einmal zur Aufnahme besonders schutzbedürftiger Menschen in europäischen Ländern.

Meldungen von illegalen Zurückweisungen und offenem Bruch elementarer Menschenrechte häufen sich in ganz Europa.

Das sind die großen Herausforderungen vor denen Europa derzeit steht.

Ist der Neue EU Pakt für „Migration und Asyl” eine Antwort darauf?

Der Plan lässt sich in drei Bereiche einteilen:

  1. Zugang zum EU Territorium,
  2. „Solidaritäts“-Mechanismus,
  3. Forcierte Abschiebungen und Auslagerung der Verantwortung in Nicht-EU-Länder

Analyse Teil 1: Zugang zum EU Territorium

Was ist geplant?

An den Außengrenzen werden neue Flüchtlingslager unter europäischer Flagge entstehen. Dort sollen Geflüchtete registriert, inhaftiert, in Grenzverfahren aussortiert und sehr schnell direkt wieder abgeschoben werden.

Geht es nach den Plänen der EU-Kommission, gibt es in Zukunft direkt an der Grenze ein „Screening“, eine Art Gesundheits- und Sicherheitsprüfung, in dem auch die Identität der Schutzsuchenden festgestellt werden soll.  Dieses Screening soll in der Regel nicht länger als fünf Tage dauern, kann aber bei hohen Antragszahlen auf bis zu zehn Tage verlängert werden. Dann wird primär nach dem Herkunftsland entschieden, welches Verfahren für sie folgt:

Entweder ein sogenanntes „Grenzverfahren“, also ein Schnellverfahren an der Grenze, oder ein reguläres Asylverfahren.

Wer bekommt ein Schnellverfahren?

Personen, die aus Ländern kommen, in denen die europaweite Schutzquote unter 20% liegt, landen automatisch in einem Schnellverfahren. Durch eine neue „Krisen-Verordnung“ kann das Schnellverfahren an der Grenze noch erheblich ausgebaut werden und würde dann auch Personen aus Ländern mit einer Schutzquote von bis zu 75% betreffen! Auch Personen, denen vorgeworfen wird, dass sie falsche Informationen angegeben haben oder Informationen sowie Dokumente zurückhalten, können dem Schnellverfahren an der Grenze zugewiesen werden.

Während des Screenings und des Grenzverfahrens, das bis zu 12 Wochen und im Krisenfall bis zu 20 Wochen dauern kann, werden die Schutzsuchenden in einer geschlossenen Einrichtung angehalten. 

Während dieser Zeit gelten die Schutzsuchenden als „nicht eingereist“, selbst dann, wenn sie weit weg von der Grenze irgendwo im Landesinneren angehalten werden.

Bewertung:

Was hier angedacht wird, ist dasselbe Hot-Spot-Modell wie bisher, allerdings groß ausgebaut und weiter verschärft. Das Scheitern des aktuellen Modells bekommt die EU anhand von Moria und der anderen Lager auf den griechischen Inseln seit Jahren anschaulich vor Augen geführt.

Die Vorschläge der EU-Kommission würden also zu riesigen Haftlagern an den Außengrenzen führen.

Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention sieht aber vor, dass gegen Flüchtlinge keine Strafen wegen ihrer unrechtmäßigen Einreise oder ihres unrechtmäßigen Aufenthalts verhängt werden dürfen. Das bedeutet, dass Asylwerber nicht allein deswegen in Haft genommen werden dürfen, weil sie Asyl beantragen.

Damit ist mehr als fraglich, ob eine bis zu 5-monatige defacto-Haft mit dem Völkerrecht in Einklang steht.

Außerdem sind faire Asylverfahren in solchen Haftlagern schwer vorstellbar. Schon jetzt sind die Asylverfahren in Griechenland  fast zum Stillstand gekommen. Durch die neuen Verfahren kommen jetzt zusätzliche Aufgaben hinzu.

Auch in Zukunft steht Griechenland alleine da

Die Folge: Ein Nadelöhr entsteht, weil Griechenland im Auftrag aller anderen EU-Staaten im Alleingang entscheiden soll, wer Zugang zum EU-Territorium und ein Asylverfahren erhält, und wer nicht.

Extrem besorgniserregend ist, dass die Geflüchteten keinen Zugang zu Rechtsbeiständen haben werden, und Rechtsmittel gegen negative Entscheidungen im Grenzverfahren keine automatische aufschiebende Wirkung haben sollen.

Kriterien für Zugang zu den Verfahren äußerst fragwürdig

Das Heranziehen von europaweiten Schutzquoten zur Entscheidung, ob jemand Zugang zu einem ordentlichen Asylverfahren bekommt, ist extrem fragwürdig. Es handelt sich ja um Durchschnittswerte und nicht alle EU-Staaten haben ein ernstzunehmendes Asylverfahren. Dass die sogenannten Eurostat-Statistiken, aus der diese Daten stammen sollen, sehr problematisch sind, hat der Europäische Flüchtlingsrat hier analysiert.

Das Ziel des Grenzverfahrens ist es, Schutzsuchende schnell abzulehnen und dann schnell abzuschieben. Grenzverfahren sind aber keine fairen Asylverfahren, denn sie ermöglichen keine gründliche Prüfung der Asylanträge. Erfahrungen aus ganz Europa zeigen: Beschleunigte Verfahren sind fehleranfällig und werden oft sehr schlampig geführt.

Überforderung statt Entlastung

Das vorgeschlagene Grenzsystem bringt keine Lösung der derzeitigen Situation. Bestehende Probleme werden damit weiter verschärft. Für Schutzsuchende wird es noch unwahrscheinlicher zu ihrem Recht zu kommen. Für Länder an der Außengrenze gibt es keine Entlastung, sondern noch mehr Überforderung.

Analyse Teil 2: Der „Solidaritäts“-Mechanismus

Was ist geplant?

Die bisherigen Pläne zu einer gerechteren Verteilung von Schutzsuchenden in alle europäischen Länder wurden im neuen Pakt der EU-Kommission gänzlich fallen gelassen. An dessen Stelle soll ein „Solidaritäts“-Mechanismus treten, der anders als in den Medien kolportiert, aber nur in Kraft treten soll, wenn ein Mitgliedsland besonders unter Druck steht.

Die angekündigte Abschaffung der Dublin-Verordnung ist eher eine Neubenennung. 

Die angekündigte Abschaffung der Dublin-Verordnung ist eher eine Neubenennung. Sie wird in Zukunft: Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement heißen.

Die Asylsuchenden werden, wie bisher im Dublin-System, weiterhin verpflichtet in jenem Land ihren Antrag zu stellen, in das sie als erstes eingereist sind.

Ziehen Asylsuchende in andere EU Staaten weiter, werden sie nach dem Vorschlag der EU-Kommission in Zukunft nicht mehr in Quartiere aufgenommen und erhalten keine Unterstützung zum Lebensunterhalt.

Wird der „Solidaritäts“-Mechanismus in Kraft gesetzt, gibt es in Zukunft die Möglichkeit der Umverteilung (»Relocation«). Im Fall von aus Seenot geretteten Menschen wird das immer der Fall sein und es gibt ein klares Verfahren dafür. Für alle anderen Fälle aber nur dann, wenn der aufnehmende Mitgliedsstaat, „unter Druck steht“.

Folgende „Solidaritäts“-Maßnahmen sind vorgesehen:

  • Aufnahme bzw. Umverteilung von Asylsuchenden, die nicht im Grenzverfahren sind,
  • Aufnahme bzw. Umverteilung von anerkannten Flüchtlingen,
  • Unterstützung bei Abschiebungen - »Abschiebe-Patenschaften« (Näheres dazu siehe weiter unten),
  • Maßnahmen zur Stärkung der Kapazitäten im Bereich von Asylverfahren, Aufnahme und Rückführung
Bewertung:

Das bisherige Problem, das die gesamte Verantwortung für die Asylverfahren den Erst-Einreisestaaten wie Griechenland oder Italien aufbürdet, bleibt bestehen. Es wird eine Interpretationsfrage, wie viel einem Land aufgebürdet werden kann. Schon bisher gibt es da sehr unterschiedliche Ansichten in Europa, wenn es um Unterstützung für andere EU-Staaten geht.

Weiterziehen verunmöglichen funktioniert nicht

Hochproblematisch und kontraproduktiv ist die Vorstellung, die Weiterwanderung von Schutzsuchenden in Europa durch Nicht-Versorgung unterbinden zu können. Die Erfahrung aus dem bisherigen Dublin-System zeigt, dass sich Schutzsuchende nicht durch Sanktionen davon abhalten lassen, dorthin weiterzuziehen, wo sich ihre Verwandten oder Freunde aufhalten. - Aus integrationspolitischer Sicht wäre es sehr klug, diese Wünsche zu berücksichtigen, weil Integration und Zugang zum Arbeitsmarkt über Familien- und Freundesnetzwerke viel einfacher gelingt.

Die Konsequenz dieser Verschärfung wird sein, dass die Menschen trotzdem weiterwandern, jedoch keinen legalen Aufenthalt erlangen können, und in Obdachlosigkeit und Armut landen werden.

Welche Beiträge die EU-Staaten für den „Solidaritäts“-Mechanismus leisten müssen, will die EU-Kommission in sogenannten „Migration Management Reports“ ermitteln, und dann mit den Angeboten der Mitgliedstaaten abgleichen. Wie viele Angebote ein Mitgliedstaat machen soll, bemisst sich nach der Bevölkerungszahl und dem Bruttoinlandsprodukt. - In der Vergangenheit sind ähnliche Pläne, zum Beispiel bezüglich der Verteilung von Asylsuchenden aus Griechenland und Italien ab 2015, kläglich gescheitert.

Die europäische Asylpolitik ist vergiftet

Die Wortkreation: „Return-Sponsorship“, auf Deutsch mit „Abschiebe-Patenschaft“ übersetzt, zeigt wie vergiftet die europäische Asylpolitik inzwischen ist. Nicht der Schutz von Menschen steht im Vordergrund, sondern die Abschottung und rasche Abschiebung.

Positiv besetzte Begriffe wie Patenschaft und Solidarität werden ins Gegenteil verkehrt. Sie dienen nicht länger dem Schutz und der Unterstützung von Menschen.

Verschärfung bestehender Probleme

Der vorgeschlagene „Solidaritäts“-Mechanismus bringt keine Lösung der derzeitigen Situation. Bestehende Probleme werden damit weiter verschärft. Für Schutzsuchende wird es noch unwahrscheinlicher, zu ihrem Recht zu kommen, Sicherheit zu erlangen und mit ihren Familien oder Freunden ein neues Leben in Sicherheit und Würde beginnen zu können.

Im Gegenteil: Es droht Obdachlosigkeit und Verelendung. Für Länder an der Außengrenze gibt es nur im Krisenfall theoretische Entlastung. Ob dieser Mechanismus tatsächlich andere Staaten zu mehr Solidarität anregen wird, muss stark bezweifelt werden.

Analyse Teil 3:  Forcierte Abschiebungen und Auslagerung der Verantwortung in Nicht-EU-Länder

Was ist geplant?

Die EU-Kommission schlägt die Einführung eines europäischen »Abschiebe-Koordinators« vor.  Mitgliedstaaten, die sich weigern Schutzsuchende aufzunehmen, sollen dies über „Abschiebe-Patenschaften“ ausgleichen können und andere Staaten bei Abschiebungen unterstützen.

Bereits jetzt sind viele Abschiebungen „europäisch“ organisiert. Werden Abschiebungen von FRONTEX, der europäischen Grenzschutzagentur durchgeführt, sind sie für die Mitgliedsstaaten kostenlos.

Die neue Kommission setzt im „New Pact“ auf die bekannten Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern, z.B mit Libyen, sowie die "Bekämpfung von Fluchtursachen" und die "Unterstützung von Flüchtlingen und aufnehmenden Ländern vor Ort".

Bewertung:

Es mutet geradezu absurd an, dass EU-Staaten, die sich bislang standhaft geweigert haben eine konstruktive Rolle für ein gemeinsames europäisches Asylsystem zu übernehmen, sich in Zukunft um Abschiebungen kümmern sollen. Zukünftig müssen z.B. Ungarn oder Österreich keine Flüchtlinge aufnehmen.

Die Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern sind besonders problematisch. So wird derzeit etwa über EU-Mittel die libysche Küstenwache finanziert, in deren Lager nachweislich gefoltert wird und immer wieder Menschen ermordet werden.

Der kleinste gemeinsame Nenner in der europäischen Flüchtlingspolitik ist nicht mehr die Einhaltung fundamentaler Menschenrechte und die Verteidigung der Grundwerte, sondern Abschiebung und Abschottung.

Ein gemeinsames Europäisches Asylsystem ist in noch weitere Ferne gerückt. Europa nimmt sich aus dem Spiel, schottet sich ab und nimmt seine Verantwortung nicht mehr ausreichend wahr. So benötigen laut UNHCR fast 1,45 Millionen Flüchtlinge weltweit dringend einen Resettlement-Platz.

Das viel zu selten angewandte Resettlement-Verfahren böte die Möglichkeit, legal in Aufnahmeländer einzureisen und Asyl zu erhalten, und würde bei einer reellen Chance auf einen der begehrten Plätze, eine Vielzahl von Schutzsuchenden vor der lebensgefährlichen Flucht über das Meer abhalten.

2019 haben die EU- und EFTA-Staaten gemeinsam nur 29.000 Menschen über das Resettlement-Programm der UNO aufgenommen. In den ersten 6 Monaten 2020 waren es überhaupt nur 4.400. - Resettlement ist derzeit die einzige Möglichkeit zur legalen Einreise für Geflüchtete.

Doch trotz des hohen Bedarfs fällt die neue Empfehlung der Kommission auch hier ambitionslos aus:

Sie schlägt vor, die für 2020 gemachten Zusagen für Resettlement-Plätze aufgrund der Corona-Pandemie auf den Zeitraum 2020–2021 zu strecken.

 

Grundlage dieser Analyse ist der umfassende Text von Proasyl Deutschland:  https://www.proasyl.de/news/grenzverfahren-unter-haftbedingungen-die-zukunft-des-europaeischen-asylsystems/  

Forcierte Abschiebungen sind keine Lösung

Forcierte Abschiebungen und Auslagerung der Verantwortung in Nicht-EU-Länder bringen keine Lösung der derzeitigen Situation. Die EU Staaten sind weit davon entfernt, faire Asylverfahren zu annähernd gleichen Bedingungen bieten zu können. Wer abschieben will, muss auf faire Asylverfahren achten und darf abgelehnte Asylsuchende nicht ins Nichts schicken. Hier würden glaubwürdige Reintegrationsprojekte in den Herkunftsregionen helfen. 

Autor:innen

Mag. Christoph Riedl
Grundlagen & Advocacy
Sozialexperte Migration, Asyl, Integration, Menschenrechte