„Graffiti ist Malen ohne Grenzen“
- Story
Unter der Nordbahnbrücke, etwas außerhalb der Stadt, treffe ich auf Valeriia, Iryna und Anton sowie ein Duzend Jugendlicher, die mit Spraydosen in der Hand die uncharmanten Brückenpfeiler und Wände behübschen. „Graffiti ist Malen ohne Grenzen“, erklärt mir Valeriia, die schon sehr lange in der Sprayer-Community unterwegs ist. Sie ist zudem Obfrau vom „Verein der Internationalen Kreativen Ideen“ (kurz: VIKI) und arbeitet eng mit der Wiener Wand zusammen. Sie ist auch einer der Gründe, warum die Kids hier sprayen dürfen.
Das Projekt Wienerwand ist eine Initiative der Stadt Wien, das Künstler:innen aus der Graffitiszene legale Wände zur Verfügung stellt. Die Flächen sind mit einer Taube gekennzeichnet und markieren, wo sprayen erlaubt ist. „Denn illegales Sprayen kann sehr teuer werden“, erzählt mir Valeriia: „Ein falscher Sprüher kann bis zu 20.000 Euro kosten, wenn du dabei erwischt wirst!“. Das will natürlich niemand riskieren, deshalb hat sich Valeriia für legale Wände eingesetzt.
Ein Stück Freiheit wiedergewinnen
Das Vogelsymbol an den Wänden steht für Freiheit und vogelfrei. Denn wer mit Dosen „malt“, kämpft für Freiheit. Für die künstlerische Freiheit, für die Gedanken- und Meinungsfreiheit und für die persönliche Freiheit, die keine Grenzen kennt. Graffiti ist deshalb ein ideales Format für die Kids und Jugendlichen des Beratungszentrums Ukraine.
Es sind Kinder und Jugendliche, die vor dem Krieg fliehen mussten und ihre Großeltern, Geschwister oder andere Verwandte zurücklassen mussten. Einige ihrer Schulkolleg:innen sind nicht mehr am Leben oder sie haben sogar ihre eigenen Eltern verloren. Diese Kids mussten ihre Heimat zurücklassen und somit auch ihre Traditionen, ihre Community, ihre Kultur und ihre Kindheit.
Mit Graffiti die Gefühle ausdrücken
Hier in Wien ist alles neu: die Menschen, die Kultur, die Werte, die Sprache. Die Kinder müssen sich erst einmal zurecht finden in der neuen Umgebung und im Schulsystem. „Wenn sie die Sprache noch nicht können, dann bleibt ihnen immer noch das Malen“, erzählt Iryna aus dem Beratungszentrum Ukraine. Sie ist Psychologin und selbst aus der Ukraine nach Österreich gekommen, allerdings schon vor Kriegsbeginn. Doch sie weiß noch genau, wie es sich anfühlt, in ein neues Land zukommen und komplett von vorne zu beginnen.
„Es ist ein Chaos der Gefühle. Doch das Sprayen hilft ihnen, sich auszudrücken. „Sprüht Eure Gefühle raus!“, sage ich zu den Kids, die in unsere Workshops kommen. Vor allem wenn Kinder sehr introvertiert sind, ist Graffiti eine gute Technik sich von emotionalen Belastungen zu befreien. Es kommen auch immer wieder autistische Kinder, die gar nicht reden wollen. Doch sie lieben sprayen!“
Für Valeriia ist Graffiti ein Ausdrucksmittel für Menschen, die keine Stimme haben: „Mit Graffiti kannst du dich bemerkbar machen, wenn du sonst nicht gehört wirst. Graffiti ist deshalb auch etwas Politisches.“ Graffiti war immer schon eine gute Möglichkeit politische Statements an die Regierung zu schicken. Oder ganz früher, um Nachrichten über die Grenzen hinaus zu tragen, indem man Botschaften auf Züge gemalt oder geschrieben hat.
Bei diesem Workshop steht nicht die Technik oder der künstlerische Anspruch im Vordergrund, sondern die Begegnung mit den Kindern und die psychologische Arbeit mit ihnen. Zu Beginn gibt der stadtbekannte Graffitikünstler Yegor eine kurze Einführung in die Kunst des Sprayens und zeigt wie man die Dosen und Aufsätze (Cups) richtig verwendet: „Welcher Cup ist für welche Linie geeignet? Wie erzeuge ich eine Fläche? Welchen Abstand muss ich zur Wand einhalten? Brauche ich eine Papierskizze, bevor ich mit dem Sprayen an der Wand beginne?“
Für diese und alle anderen technischen Fragen steht Yegor den Jugendlichen zur Seite und verrät dabei auch seine eigenen Tricks. Früher war er nur illegal unterwegs, doch heute ist er ein gefragter Graffitikünstler, der Auftragsarbeiten macht und Kindern helfen möchte, sich ebenfalls kreativ auszudrücken.
Ein Safe Space fürs freie Gestalten
Manche Kids malen ihre Motive auch direkt vom Handy ab oder suchen sich ein Meme aus dem Internet heraus. Denn hier haben die Kinder komplett freie Bahn und dürfen gestalten, wie und was sie wollen. Die Eltern werden weggeschickt und es gibt keine inhaltlichen Vorgaben. Jede:r soll sich (vogel)-frei fühlen und ihre/seine Ideen ausleben. Vereinzelt gibt es Kinder, die bedenkliche oder verstörende Inhalte kreieren¬ - mit Gewalt oder suizidalen Motiven. „Doch dafür sind wir da“, betont Iryna.
Die ausgebildete Psychologin, die bereits in Lviv an Schulen gearbeitet hat, ist sensibilisiert für gefährliche Inhalte. Sie fragt die Kinder, was sie denn gerade malen, was das für sie bedeutet und ob sie damit etwas Bestimmtes ausdrücken wollen? Im Zuge von persönlichen Gesprächen unter vier Augen lädt sie im Bedarfsfall Kinder ein, zu ihr in die Beratung zu kommen - vor allem, wenn sie vermutet, dass hinter dem Kunstwerk große Themen stecken, die aufgearbeitet werden wollen.
Beratungszentrum Ukraine & Angebote für jugendliche Geflüchtete
Im Beratungszentrum Ukraine gibt es Wohnberatung, Sozialberatung, sozialmedizinische Beratung und Arbeitsmarktintegrationsberatung für vertriebene Menschen aus der Ukraine – muttersprachlich oder dolmetschergestützt.
Der Graffiti-Workshop findet in regelmäßigen Abständen in Kleingruppen statt und wird von Fachleuten begleitet. Er wird über Telegramm oder andere Social Media Chats beworben. Es ist ein spezieller Raum nur für Jugendliche, wo sie sich ausprobieren dürfen und eine Peergroup finden. Valeriia Tebiakina ist eine der Schlüsselfiguren des Graffiti-Workshops, den das Beratungszentrum Ukraine mit Hilfe eines Großspenders organisiert. Instagram: @viki_quartier
Legale Wände zum Sprayen in Wien: www.wienerwand.at