Kindergesundheit: Jedes Kind soll das Recht auf eine optimale Betreuung haben

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04. Februar 2021
Cornelia Moore, Teamleiterin zweier Wohngemeinschaften der Diakonie für Kinder und Jugendliche, im Interview.

Therapieplätze ausbauen und Lücken schließen!

Kinder brauchen Hilfe, wenn sie mit ihrem Alltag und mit sich selbst nicht mehr zu Recht kommen. Es gibt zu wenig kostenfreie Therapieplätze oder elendslange Wartezeiten. Lücken schließen. Therapieplätze für Kinder ausbauen.

Sie sind Teamleiterin in zwei Wohngemeinschaften der Diakonie für Kinder und Jugendliche in Kärnten - die WG cowota und die WG future. Welche Kinder und Jugendlichen wohnen hier?

Cornelia Moore: Alle unsere Kinder und Jugendlichen haben belastete Biografien, sie erlebten Bindungs- und Beziehungsabbrüche, waren konfrontiert mit psychischen Erkrankungen, Arbeitslosigkeit und Existenzängsten ihrer Eltern, erfuhren seelische und manchmal auch körperliche Gewalt. Sie erzählen von Verlust- und Versagensängsten, von Schulverweigerung und Mobbing, von schlechten Leistungen und Scham. Viele von ihnen sind traumatisiert, haben dadurch ein schwaches Immunsystem und sind wesentlich infektanfälliger als Gleichaltrige.

Was bedeutet das für die Kinder und Jugendlichen im Alltag?

Das hat zur Folge, dass sie viele Arzttermine haben, medizinische Abklärungen brauchen und oft auch stationäre Aufenthalte. Wenn sie spezielle Therapien in Anspruch nehmen, fehlen ihnen aber wieder Bildungszeiten. Viele alltägliche Anforderungen und Entwicklungsaufgaben überfordern sie, sie brauchen mehr Zeit und Anleitung, Ermutigung und Motivation als andere Kinder. Bei all dem haben sie ganz oft dieselben Ziele wie andere Kinder und Jugendliche in ihrem Alter: eine glückliche Familie, die Fahrradprüfung bestehen, ein schönes Zeugnis, einmal ein tolles Auto haben, den Führerschein schaffen, ans Meer fahren oder ein erfolgreicher Youtuber zu werden.

Wie haben sich die Herausforderungen der jungen Menschen und Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?

Die Belastbarkeit unserer Systeme kommt oft an Grenzen. Wir haben in den Familien eine Häufung von Problemlagen. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die psychisch erkranken, steigt ständig, die Diagnosen werden vielfältiger. Angststörungen nehmen aktuell rapide zu, viele unserer Kinder haben starke Ein- und Durchschlafstörungen und kommen dann am Morgen nicht aus dem Bett. Der Stress, sie doch noch rechtzeitig in die Schule/Ausbildung zu bringen, nagt an beiden – am Kind und am Betreuer.

Und jetzt kommt noch der Stress der Corona-Pandemie hinzu...

Die Covid-19-Situation verstärkt die Schwierigkeiten: Arbeitssuchende Jugendliche finden keine Praktikumsstellen oder fallen während der Probezeit durch Erkrankung oder Absonderungsbescheide aus. Schüler haben seit Monaten ihre Klasse nicht mehr gesehen, verlieren jeden sozialen Anschluss. Ausbildungslose Jugendliche leiden unter Einsamkeit und fühlen sich alleine gelassen, weil auch berufliche Orientierung oder Berufsvorbereitung nur mehr online stattfindet.  Der Mangel an Ressourcen im Helfersystem wird immer offensichtlicher, es fehlt an Krankenhausbetten, an Kinder- und Jugendpsychiatern, an Fachkräften, die starke, sichere Bindungspersonen sein können.

Was also tun?

Um all diesen Herausforderungen zu begegnen, brauchen wir gut ausgebildete, belastbare Mitarbeiter, die Tag für Tag für die Kinder und Jugendlichen da sind. Seitens der Diakonie gibt es laufend Schulungsangebote, um den Mitarbeitern das nötige Fachwissen mitzugeben, damit sie trotz aller Belastungen im Arbeitsfeld langfristig psychisch und physisch gesund bleiben und stabile Bezugspersonen für die Kinder und Jugendlichen sind. PART®-Trainings, Lehrgänge der Traumapädagogik, systemisches Arbeiten und bindungsgeleitete Interventionen, viel Intervision, regelmäßige Teambesprechungen und verpflichtende Supervisionen sorgen für ein hohes Betreuungsniveau.

Gute Aus- und Fortbildung also...

Und wir brauchen gute Netzwerkpartner, eine enge Zusammenarbeit mit den Jugendämtern, den Schulen, niedergelassenen Ärzten, der Polizei, den Therapeuten und Beratungsstellen usw. Für uns ist außerdem eine gute und wertschätzende Eltern- und Angehörigenarbeit sehr wichtig.

Ausbildung, Fortbildung, Vernetzung und Zusammenarbeit - was muss sich konkret ändern, damit das noch besser möglich wird?

Für alle diese Aufgaben brauchen wir Ressourcen. Diese an den steigenden Bedarf anzupassen, ist sicher eine große gesellschaftspolitische Herausforderung. Wir brauchen kleinere Gruppen und größere Räume, da Enge Aggression fördert und wieder Stress macht. Wir brauchen Schulbegleitung und -assistenz für jeden Schüler, die nicht in unser reguläres Schulsystem passen. Wir brauchen Betreuer mit Tieren und geeignete Therapieplätze für Kinder, ihre Eltern und Angehörigen. Wir brauchen ausreichende medizinische Versorgung und die Möglichkeit einer engen Zusammenarbeit mit der Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters. Jedes Kind und jeder Jugendliche soll das Recht auf eine optimale Betreuung haben, eine Hilfe die möglichst individuell und passgenau auf ihn/sie abgestimmt ist. Jedes Kind soll ein Recht auf Zukunft haben, auch wenn der Start ins Leben oft so holprig war.

Hilfe im Krisenfall

Für Menschen in Krisensituationen und ihre Angehörige gibt es Anlaufstellen. Unter www.suizid-praevention.gv.at findest du Notrufnummern und Erste Hilfe bei Suizidgedanken.
Telefonische Hilfe gibt es auch bei:

  • Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr): 01/313 30
  • Kriseninterventionszentrum (Mo-Fr 10-17 Uhr): 01/406 95 95, kriseninterventionszentrum.at
  • Rat und Hilfe bei Suizidgefahr 0810/97 71 55
  • Sozialpsychiatrischer Notdienst 01/310 87 79
  • Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos): 142
  • Rat auf Draht (0-24 Uhr, für Kinder & Jugendliche): 147
  • Sorgentelefon für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Mo-Sa 14-18 Uhr, kostenlos): 0800/20 14 40
  • Gesprächs- und Verhaltenstipps: bittelebe.at