Leben mit seltener Krankheit: Carmen (11) erzählt

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04. Februar 2021
Carmen lebt mit einer seltenen Krankheit und ist seit ihrer Geburt in Therapie.

"Damit sich Carmen hinsetzen und aufstehen kann, muss sie vorher einen Spagat machen. Einen Spagat zu beherrschen, macht sie stolz." Mein Telefonat mit Anita Schinnerl, Carmens Mutter, machte mich bereits sehr neugierig auf das 11-jährige Mädchen, das an der seltenen Krankheit "Arthrogryposis multiplex congenita" erkrankt ist. Da Carmen selber später einmal Journalistin werden möchte, hatte ich gute Karten für ein Interview. Corona-bedingt war uns ein persönliches Kennenlernen nicht möglich, also fand unser Treffen zu dritt über Zoom statt.

Eine Krankheit, selten "wie ein Lottosechser"

Anita Schinnerl erzählte mir schon vor unserem Treffen, dass Carmen ihr körperliches Defizit mit einer kognitiven Stärke ausgleicht. Und so erlebte ich das Mädchen dann auch. Sprachlich gewandt und klar in der Formulierung erklärte sie mir ihre Krankheit, über die sie kurz zuvor ein Referat vor ihren Mitschüler:innen in der Mittelschule hielt. "Als ich auf die Welt kam, wunderten sich die Krankenschwestern und Hebammen, warum ich nicht strampelte wie die anderen Babys."  Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) ist eine angeborene Gelenksteife, die sich bei Carmen vor allem auf die Knie- und Ellenbogengelenke auswirkt. Betroffen sind außerdem ihre Hände und Schultern sowie das Kiefergelenk, mehr oder weniger aber fast alle Gelenke. Die Krankheit ist selten, "so wie ein Lottosechser", meint Carmen.

Turnen im Bauernhof

Schon bald war klar, dass bei Carmen Therapien notwendig und vor allem zielführend sein würden. Dass sich die Therapieerfolge aber so gut einstellen würden, war dann sehr überraschend. Familie Schinnerl wohnt auf einem Bauernhof in Bad Zell in Oberösterreich. Anfangs fuhr Anita Schinnerl mehrmals pro Woche mit ihrer Tochter zur Physiotherapie ins Diakoniewerk nach Gallneukirchen, zusätzlich zu den Turnübungen, die sie oft drei bis viermal täglich zu Hause machten. Die Größe des Bauernhofs ermöglicht es, dass ganze Räume eher einem Turnsaal gleichen, in dem Carmen ihr Training absolviert. Inzwischen kommt Carmen nur noch jeden zweiten Donnerstag zur Physiotherapie.

Schnellschreiberin

Zusätzlich war Carmen von Geburt an bei  der Logopädie, um saugen und später essen, trinken und sprechen zu lernen. Außerdem bei der Ergotherapie, um speziell die Fingerfertigkeit, Feinmotorik und Alltagstätigkeiten zu erlernen. Mit Erfolg, denn zur Überraschung aller beherrschte sie bald, einen Stift zu halten, als nächstes schreiben zu lernen und es schließlich zu einer der schönsten Schriften und schnellsten Schreiber:innen der Klasse zu bringen. Die Fortschritte waren beachtlich und führten dazu, dass Carmen nun auch Blockflöte spielen kann.

"Wie oft war ich schon in Wien?" lautet eine Frage an ihre Mitschüler*innen in Carmens Quiz am Ende ihres Referates. Stolz berichtet sie von ihren inzwischen 20 Kontrollterminen im orthopädischen Krankenhaus Speising in Wien, unter anderem auch mit dem Zweck, dort ihre Schienen für Daumen, Hände, Ellbogen und die Beine anzupassen. Inzwischen kann Carmen ohne Schienen gehen, es reichen spezielle Schuheinlagen.

"Man sieht nicht, was sie leisten muss"

"Man sieht nicht, was sie leisten muss", sagt Anita Schinnerl. "Ihr Körper musste jede Bewegung üben, trainieren und erlernen." Üben bestimmt Carmens Leben seit der Geburt. In den Therapiestunden bekommt sie dabei Unterstützung. Die Therapeut:innen des Therapiezentrums im Diakoniewerk arbeiten nach einem maßgeschneiderten Therapieplan, der in Zielfindungsgesprächen regelmäßig reflektiert und gegebenenfalls angepasst wird. Was am Anfang der Übungsphasen oft unmöglich scheint, gelingt dank Carmens Willen und ihrer Ausdauer dann doch meistens bald ganz gut. Zwischendurch gab es nach Beratung mit den Therapeut:innen für Carmen eine Therapiepause, damit sie auch mal einfach nur Kind und ihre Mama einfach nur Mama sein konnte.

Stiegensteigen mit zwei Liegegipsen

"Ich musste lange wie die kleinen Babys im Auto in einem Maxi-Cosi sitzen. Da seid ihr schon herumgelaufen, auf Sofas geklettert und Bobby Car gefahren", erwähnt sie ihre Defizite ihren Mitschüler:innen gegenüber ganz nüchtern. "In der Kindergartenzeit erreichte ich einige Ziele: Meine Arme kamen so hoch, dass ich mir alleine das T-Shirt anziehen und Türschnallen und Lichtschalter erreichen konnte. Und ich lernte mit fünf Jahren das Stiegen steigen. Stellt euch vor, ihr müsst mit zwei Liegegipsen über die Stiege gehen!"

Scheinbare Nachteile werden für Carmen zu Vorteilen. Von Geburt an ist sie gewohnt, zu üben und sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln. Sie meint, sie könne sich dadurch in der Schule besser konzentrieren. Und Termine beim Zahnarzt oder Impfen sind für sie ein Klacks, da habe sie schon Schlimmeres überstanden.

Ozeantauchen mit Haien

Es gibt einiges aus ihrem – von Therapien geprägten – Leben, das Carmen stolz vor ihren Freunden erzählt: "Manchmal durfte ich zur Musiktherapie fahren – nicht zum Lernen, sondern zum Spaß!"

Bei unserem virtuellen Treffen erzählt sie mit leuchtenden Augen vom großen Turnsaal im Therapiezentrum des Diakoniewerks mit Rutschen, einem fliegenden Trapez und "Spielen wie im echten Leben": Skirennen auf beweglichen Matten, Ozeantauchen mit Haien, Dschungelsafari mit wilden Tieren.

"Man kann Carmen und anderen Betroffenen nur etwas Gutes tun, wenn man über ihre Krankheit und das, was ihr hilft, redet", so Anita Schinnerl. Das Therapieangebot des Diakoniewerks ist für Familie Schinnerl ein Fixbestandteil ihres Lebens. "Nicht auszudenken, wo Carmen jetzt stehen würde, hätte sie diese Therapiemöglichkeiten nicht gehabt."

Bangen um Schulassistenz

Dennoch sind da einige Hürden, die Familie Schinnerl jedes Jahr Sorgen bereiten. Da Carmen zu „körperbehinderten Kindern“ zählt, hat sie einen theoretischen Anspruch auf eine Schulassistenz. "Trotzdem ist es jedes Jahr immer ein Bangen und ein Zittern, ob wieder ein Kontingent zur Verfügung steht. Für uns die größte Hürde stellt aber immer die Zeit vor und nach dem Unterricht dar. Carmen ist ein Buskind und kommt bereits um 7:00 Uhr in der Schule an, das ist lange vor Unterrichtsbeginn. Wir brauchen daher immer jemanden, der mit ihr über die Stiege zur Schultür geht, die Schulsachen trägt, beim Ausziehen hilft. Ohne Schulwart wäre das in der Volksschule schwer gewesen. Und jetzt in der Mittelschule sind wir dem guten Willen des Busunternehmers ausgeliefert, an welchen Tagen er sie vor der Türe, bei der man Stufen vermeiden kann, abholt. Da muss die Gemeinde beim Land OÖ über eine Busbegleitung ansuchen, die sie nur im Nachhinein mit dem Land verrechnen kann“, berichtet Anita Schinnerl über die formalen Herausforderungen, damit das Leben ihrer Tochter halbwegs normal ablaufen kann. 

Herumlaufen

"Heute bin ich sehr selbstständig und laufe zu Hause herum. Ich klettere in der Böschung herum, bin im Wald und mache vieles allein. Ich kann mir auch eine Jause zubereiten und helfe meinem Papa im Stall", sagt Carmen. Stolz ist sie über ihre Leistungen in der Schule und über alles, was für die meisten Kinder ihres Alters selbstverständlich ist: sie kann jetzt selbständig essen, trinken, sitzen und gehen. Ihre nächsten Ziele sind, sich ihre Haare selber föhnen zu können sowie Radfahren, Schwimmen und Langlaufen zu erlernen. "Und dass die Beine nicht mehr ins 'X' knicken." So wie ich Carmen kennen gelernt habe, wird sie auch das bald schaffen.

190.000 chronisch kranke Kinder in Österreich brauchen Unterstützung!

Damit sie alle die Entwicklungsmöglichkeiten bekommen, die sie brauchen, müssen wir die Benachteiligung dieser Kinder in Kindergarten und Schule beenden.