Sozialraum und Entlastung: Tagesbetreuung für Menschen mit Demenz

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16. September 2021
Ute Uitz lebt mit Demenz und besucht eine Tagesbetreuung der Diakonie. Jörg Uitz, ihr Mann, im Gespräch über das Leben mit Demenz, Freiräume und einen Ort zum Lachen.

Wie war Ihr Weg in die Tagesbetreuung?

Jörg UitzZuerst konnten wir die ersten Signale der Vergesslichkeit gar nicht richtig deuten. Die Erinnerungslücken meiner Frau nahmen aber stetig zu. Eine unserer Töchter und der Hausarzt empfahlen eine professionelle Tagesbetreuung. Über eine Zeitungsannonce und die "Beratung im Café" der Diakonie lernten wir die Tagesbetreuung im Haus am Ruckerlberg kennen.

Wie war das für Ihre Frau?

Der "Ruckerlberg", wo die Tagesbetreuung ist, ist für meine Frau positiv besetzt. Sie hat zu diesem Ort aus familiären Gründen seit ihrer Kindheit einen emotionalen Bezug, kann sich mit dem Haus gut identifizieren. Schon in der Früh packt sie freudig ihren Rucksack! Dreimal in der Woche ist sie den ganzen Tag hier. Und am Nachmittag lässt sie sich fröhlich und gut gelaunt wieder von mir abholen.

Wie finden Sie die Tagesbetreuung?

In der Tagesbetreuung erlebt meine Frau Hinwendung, Geduld, soziale Kompetenz, Demut und Nächstenliebe. Die Betreuung berücksichtigt ausgeprägte Fähigkeiten jedes einzelnen Tagesgastes. Schon der Empfang im Garderobebereich ist von einfühlsamer Herzlichkeit geprägt. In einem behaglichen, von Wärme und Zuwendung getragenen Wohnambiente und einer verantwortungsvollen Gruppengröße erfährt meine Frau Gemeinschaft, Nähe und Zugehörigkeit. In der für sie überschaubaren, mittlerweile "gewohnten" Lebenssituation fühlt sie Geborgenheit.

Jahresfeste und Geburtstage werden gebührend gefeiert, neue Kontakte werden geknüpft! In der Tagesbetreuung erlebt meine Frau zur Aktivierung ihrer geistigen wie seelischen Reserven ein reiches und vielfältiges Angebot. Sie erzählt oft von ihren Spaziergängen im Garten. Besonders beeindrucken sie handwerklich-kreative Mosaikarbeiten, Musik - oder auch das gemeinschaftliche Singen zum Tagesausklang. Auf diese Weise werden viele verborgene Fähigkeiten angesprochen.

Wie erleben Sie Ihre Situation als engster Angehöriger?

Im Alltag muss ich wegen unerwarteter Fehlhandlungen in großer Besorgnis, wachsam und nahezu rund um die Uhr hellhörig sein. Ich fühle mich für meine Frau alleine verantwortlich. Demenz bedeutet ja nicht nur räumliche und zeitliche Desorientierung, sondern auch den Verlust verbaler Ausdrucksfähigkeit, Sprachlosigkeit, Stille bis hin zum Verstummen. Meine Frau behutsam auf diese zunehmenden Defizite hinzuweisen, das wirkt oft kränkend auf sie. Ich muss lernen, ihre physischen und psychischen Grenzen zu achten.

Was hat sich im Alltag verändert?

Meine Frau lebt sehr gerne zu Hause. Jeder Tag folgt einem ähnlichen, gewohnten und vertrauten Verhaltensrhythmus. Der 12-Stundentag beginnt für mich um 7 Uhr mit der Hilfestellung beim Ankleiden und endet mit dem zu Bett bringen um 19 Uhr. Auch nachts bin ich für allfällige Unterstützung immer in Bereitschaft. Viele gemeinsame Tätigkeiten sind leider nicht mehr möglich. Ich habe meiner Frau ein eigenes Zimmer eingerichtet. Diesen Bereich überlasse ich, bis auf die wöchentliche Reinigung, ihrer persönlichen Verantwortung. Hier liest sie ihre Lieblingsbücher, geht philosophischen und heiteren Gedanken nach, malt Bilder von Katzen und denkt an ihre Kinder und Enkelkinder. Hier hält sie ihre eigene Ordnung.

Was verbindet Sie und Ihre Frau und wo liegen die Herausforderungen im Zusammenleben?

Täglich stellt sich von Neuem die Herausforderung, einander entfremdende Lebenskreise wieder zu erschließen. Allmählich konnten wir passende Schlüssel für ein gelungenes und vertieftes Miteinander finden: Geduld, Gelassenheit und Demut. Behutsamkeit, Nähe und Wärme - gepaart auch mit Humor. Wir schauen uns gemeinsam alte Briefen und Fotos aus unserem Leben an, das weckt positive Erinnerungen, ermutigt zu Fragen, entfacht Gespräche. Wir beschließen den Tag gemeinsam mit dem Anhören von klassischer Musik als nonverbales Ausdrucksmittel. Musik verbindet uns! Die positive Erkenntnis ist: Trotz des Verlustes verbaler Kommunikation bleibt die Empfindungsebene erhalten, vertieft sich, gewinnt neue Qualität.

Welchen Vorteil bringt die Tagesbetreuung?

In dieser Zeit mache ich die gesamte Hausarbeit, gehe einkaufen, erledige Arzt- und Apothekenbesuche oder sonstige anfallende Wege. Ich kann Dinge tun, die meine Frau bei ihrer Anwesenheit wohl kränken würden, weil sie vieles nicht mehr selbstständig machen kann. Außerdem darf ich sie Zuhause nicht mehr allein lassen. In der verbleibenden Tageszeit versuche ich, persönliche Freiräume wiederzufinden, komme auch selbst wieder etwas zur Ruhe, pflege einmal erlernte Fähigkeiten oder rare Kontakte zu Freunden.

Wo finden Sie noch weitere Entlastung?

Mit Ingrid Ferstl und dem gesamten Team der Tagesbetreuung habe ich vertrauensvolle und wichtige Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner. Auch das Gerontopsychiatrische Zentrum ist eine hilfreiche Anlaufstelle. Für diese Angebote bin ich sehr dankbar. Aber man ist als Angehöriger im Alltag trotzdem sehr auf sich alleine gestellt.

Was würden Sie sich noch wünschen?

Durch den einfühlsamen und herzlichen Umgang in der Tagesbetreuung wäre meine Frau auch bereit, das Tageszentrum öfter zu besuchen. Sie selbst könnte sich sogar vorstellen, künftig ständig im Haus am Ruckerlberg betreut zu werden und auch den Lebensabend dort zu verbringen. Solange ich aber noch die Kraft besitze, will ich für meine Frau zu Hause sorgen. Noch geht es anders und wir warten mit diesem bedeutsamen Schritt.

Was sagt Ihre Frau selbst zur Tagesbetreuung?

Sie sagt immer: "Der 'Ruckerlberg' ist ein Ort, wo gelacht und gesungen werden kann!"