Superwomen: von einer Flucht, einem neuen Zuhause und viel Frauenpower

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04. November 2016
Die eine jung, aus dem Irak und vor kurzem noch auf der Flucht. Die andere in stolzem Alter, aus Österreich und hier seit langem in Frieden und Sicherheit lebend. Die eine hat Schutz gesucht, die andere wollte Schutz geben. Zwei Frauen, die das Leben unerwartet zusammengeführt hat und die nun mit vereinten Kräften an der Zukunft basteln. Ihre Superkräfte heißen Fleiß, Humor und Umtriebigkeit. Und für ein bisschen Glück sorgt die Schildkröte.

Ein Beitrag von Julia Schwaiger.

Dass sie mit über 80 Jahren ihre erste Frauen-WG gründen wird, hätte Irene bis vor kurzem wohl nicht gedacht. Dass es mit einer 26-jährigen Irakerin sein würde, erst recht nicht.

Im Radio hatte sie von der ORF-Aktion Helfen wie wir gehört, die aus der Flüchtlings-Zuwanderung im Sommer und Herbst 2015 heraus entstand. Gesucht wurden viererlei Spenden: Arbeit, Geld, Zeit und Wohnraum. Also bot sie ihr Gästezimmer an.

Duaa kommt aus dem über 2.580 km Luftlinie von Wien entfernten Bagdad, wo sie als Assistentin in einem medizinischen Labor arbeitete. Im August 2015 floh sie nach Österreich. Zehn Tage marschierte sie über Berge, erzählt sie. Gemeinsam mit Menschen aus Afghanistan, Syrien und dem Irak. Einer ihrer Brüder (17) begleitete sie, ein anderer Bruder (22) kam drei Monate nach ihr hier an. Beide leben nun in Graz in einem Flüchtlingsquartier. Dass die drei gerade in Österreich landeten, ist eher Zufall: Hier hat sie die Polizei aufgegriffen und ihnen Fingerabdrücke abgenommen. Das Land, in dem dein Fingerabdruck aufliegt, ist zuständig für dein Asylverfahren: so will es das EU-Recht.

Es folgten zwei Monate Traiskirchen zur "Hightime" der Flüchtlingsbewegungen des vergangenen Herbstes. Danach bekam Duaa einen Platz bei Irene, vermittelt über den Diakonie Flüchtlingsdienst.

Völlig anknüpfungslos ist Irenes zivilgesellschaftliches Engagement nicht, blickt man auf das Leben der weltgewandten Dame zurück. Ihre Eltern brachten im Jahr 1956, als 180.000 Ungarn-Flüchtlinge nach Österreich kamen (Zahlen: UNHCR 2016), von denen die meisten nach Kanada oder die USA weitergebracht wurden, 40 Menschen in einer Villa im 18. Bezirk unter. Aus ihrer eigenen Familie flohen viele während des Zweiten Weltkriegs. Und Irene selbst nahm in den 1990ern bereits Bosnien-Flüchtlinge auf – in der Wohnung, die sie nun mit Duaa teilt.

Ruhig sitzen? Nicht in dieser WG

Wer denkt, mit über 80 Jahren könne man nur noch herumsitzen und Tee trinken, der irrt. Irene unternimmt so einiges mit ihrer jungen WG-Kollegin. Sie gehen in die Oper, zu Konzerten und ins Theater. Vor allem im ersten Monat spielte Irene Stadtführerin und führte Duaa zu geschichtsträchtigen Orten wie dem Schloss Schönbrunn, zum Heldenplatz und zum Zentralfriedhof. "Wegen Duaa habe ich mir jetzt endlich auch mal den islamischen Teil des Friedhofs angesehen.", sagt sie. Duaas absoluter Lieblingsplatz ist das barocke Schloss Belvedere.

Die beiden Frauen verbindet nicht nur eine Leidenschaft für städtische Kultur, sondern auch fürs Kochen. Abwechselnd bereiten sie österreichische und arabische Gerichte zu. Als Duaa eine Art Reistorte mit aufwändigem Gemüse-Mosaik zubereitete, überschlugen sich Irenes eingeladene Freundinnen mit dem Ablichten des kulinarischen Kunstwerks, erzählt Irene nicht ohne Stolz auf ihre Mitbewohnerin. Zur Entspannung mit Nebeneffekt Spracherwerb schauen die beiden dienstags "Universum" und Rosamunde Pilcher-Filme: "Diese Filme passen, weil sie leichte Kost sind. Und ein Happy End müssen sie haben.", sagt Irene und zwinkert Duaa zu.

Auf den Sport gekommen

Und noch eine Neuerung kommt für Duaa in ihrem Leben in Österreich hinzu: Mit Irenes Bekannter, der Mittelschullehrerin Annelies, beginnt sie regelmäßig auf der Donauinsel laufen zu gehen. Laufen - etwas, das sie bisher nicht machte und das ihr viel Energie gibt.

Kaum auf den Geschmack des Sports gekommen, beschließt sie auch schon bei einem Bewerb mitzumachen ...

Duaa habe sich vergangenen Winter so sehr gewünscht, die ersten Schneeflocken ihres Lebens zu sehen. Als es endlich zu schneien begann, rief Irene sie ganz aufgeregt zu sich ans Wohnzimmerfenster. Leider sei der Zauber nach zehn Minuten wieder vorbei gewesen. Es war ein "schlechter“ Winter – so sagen die Österreicher, wenn kein Schnee kommt. Doch für ein kleines Abenteuer hat es gereicht:

Die junge Irakerin ist wagemutig. Laufen im Prater ist schön und gut. Doch ihr ist schnell klar, dass Österreichs Nationalsport ein anderer ist. Und den möchte sie gerne erleben. So verzeichnet Duaa nicht nur zehn Minuten Schneefall in Wien, sondern auch ihre ersten Tage auf Skiern in Tirol ...

Vom Roserl und anderen Kindern

Es läutet. Duaa schaut auf. Wie immer hofft sie, es möge der Postler mit einem Brief sein, in dem steht, wann sie ihr "Interview" haben wird. So wird in der Asylszene die Einvernahme der Asylwerber am Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) genannt, in der die Menschen ihre Fluchtgründe darlegen. Mitunter warten sie monatelang auf dieses "Interview" - eine Zeit, in der Unsicherheit herrscht, weil ihre Erlaubnis, in Österreich zu bleiben, auf dem Spiel steht.

Es ist aber nicht der Postler an der Tür, sondern "das Roserl". Roserl ist sechs Jahre alt und mit Irene befreundet, seit sie sich im Bus kennengelernt haben. Wenn sie mit ihrer Mama zum Spielplatz geht, bringt sie ihrer Freundin beizeiten Selbstgepflücktes vorbei. Diesmal: Gänseblümchen. Duaa freut sich über das Roserl, auch wenn das Roserl nicht der Briefträger ist. Sie liebt kleine Kinder und vermisst das Spielen mit ihnen in Bagdad.

Generell spürt Duaa bezüglich der sozialen Gefüge einen Unterschied zwischen Bagdad und Wien. Während in ihrer alten Heimat Großfamilien zusammenwohnten, ständig Kinder zwischen offenen Wohnungstüren hin- und herliefen und viele Frauen in der Gruppe etwas zusammen machten, empfindet sie in ihrer neuen Heimat das Einzelgängertum sowie kleinere Familien- und Freundschaftsverbände als die Regel. Manchmal macht ihr diese ungewohnte Lebensweise noch zu schaffen. Auch andere Frauen, die aus arabischen Ländern nach Österreich geflohen sind, kämpfen mit dieser Situation, erzählt sie. Sie wisse das etwa von ihren Freundinnen aus dem Deutschkurs.

Generell spürt Duaa bezüglich der sozialen Gefüge einen Unterschied zwischen Bagdad und Wien. Während in ihrer alten Heimat Großfamilien zusammenwohnten, ständig Kinder zwischen offenen Wohnungstüren hin- und herliefen und viele Frauen in der Gruppe etwas zusammen machten, empfindet sie in ihrer neuen Heimat das Einzelgängertum sowie kleinere Familien- und Freundschaftsverbände als die Regel. Manchmal macht ihr diese ungewohnte Lebensweise noch zu schaffen. Auch andere Frauen, die aus arabischen Ländern nach Österreich geflohen sind, kämpfen mit dieser Situation, erzählt sie. Sie wisse das etwa von ihren Freundinnen aus dem Deutschkurs.

Arbeitswunsch: medizinisches Labor oder Kindergarten

Da Duaa kleine Kinder so gerne mag, würde sie - solange sie auf ihren Wiedereinstieg als medizinisch-technische Assistentin warten muss - gerne als Unterstützung für Kindergartenpädagoginnen oder auf ähnliche Weise tätig sein. Doch das ist gar nicht so einfach. Als Asylwerberin fehlt ihr die entsprechende Beschäftigungsbewilligung.

Irene kämpfte sich wochenlang durch Internetseiten, Dokumente und Ämter, um Duaas Abschluss als medizinisch-technische Labor-Assisentin nostrifizieren zu lassen. Ihre irakische Ausbildung wurde vom Amt der Wiener Landesregierung nur bedingt anerkannt. Duaa muss noch zusätzlich die Schule für medizinische Assistenzberufe absolvieren, um eine vollumfängliche Nostrifikation ihrer Ausbildung zu erhalten. "Immerhin gibt es österreichische Spezifika, Inhalte, Gesetze und so weiter, die sie vom Irak ganz einfach noch nicht kennen kann. Die braucht sie aber.", so die Auskunft seitens der Schule.

Große Pläne: Deutsch als Schlüssel

Frühestens im September 2017 hat Duaa die Chance, bei der nächsten Bewerbungsrunde dabei zu sein. Zusätzlich zu den 50 regulären Plätzen (auf die im Jahr 2016 rund 500 Bewerbungen kamen) bietet die Schule ein Kontingent von 12 Plätzen für Nostrifikanten - darauf bewarben sich heuer 25 Personen. Ihr Deutsch-Niveau muss dann mindestens B1 haben, was Sinn macht, da sie dem Unterricht folgen können muss. Das Duo gibt jedenfalls nicht auf, genau daran arbeiten sie emsig: am Deutsch, dem Schlüssel zu allerlei Türen in Österreich.

Duaa erzählt, sie habe großes Glück, dass ihr Irenes Freundin Brigitte einen Intensiv-Deutschkurs von hoher Qualität und mit einer guten Lehrerin bezahle. Sie weiß dieses Privileg zu schätzen und gibt es insofern weiter, als sie befreundeten Flüchtlingen weiterhilft: zum Beispiel mit dem Lesen der Post. Das sind Behördenbriefe, Bescheide, manchmal Aufforderungen zu einem Termin zu erscheinen. Duaa versteht den Inhalt relativ gut – ganz im Gegensatz zu ihren Freunden und Freundinnen, die keine Irene plus österreichischen Bekanntenkreis haben, die sich um ein sprachliches Vorankommen kümmern.

Ein Leben als Frau in Selbstbestimmtheit

Duaa hält Österreich für ein gutes Land zum Leben und ist angetan von den Möglichkeiten, die ihr hier gegeben sind. Dennoch sei für Asylwerber und Asylwerberinnen die Situation sehr prekär. Vor allem für jene, die noch in den Flüchtlingsheimen untergebracht sind. Sie hat viele Bekannte, die ihr von den Problemen innerhalb der Quartiere berichten, in denen ihnen nicht selten die sprichwörtliche Decke auf den Kopf fällt. Egal ob man jedoch noch in einem Heim wohnt oder schon eine private Meldeadresse hat – das kollektiv zermürbende Erleben trägt einen Namen: Warten. Warten auf die Einvernahme beim BFA, warten auf den Asylbescheid, warten auf jene Veränderung, die es braucht, um wieder ein selbstbestimmtes Leben aufzunehmen.

Für Irene bedeutet ein selbstbestimmtes Leben auch, sich als Frau des gleichen Wertes wie Männer bewusst zu sein. Ihr, die viele Jahrzehnte des Kampfes um Frauenrechte miterlebt hat, ist es ein Anliegen, die junge Duaa für Themen wie Feminismus und die Gleichstellung der Geschlechter zu sensibilisieren. Deshalb versucht sie zwischenzeitlich immer wieder Duaa historische Entwicklungen zu erklären. Sprachlich ist dieses Unterfangen mitunter sehr hochschwellig angelegt. Doch möglicherweise ist es für eine Zuwanderin besser komplexe Materie geschildert zu bekommen – mit dem Risiko zuweilen nicht alles zu verstehen – als nur belangloses Gerede zu erhalten, weil ihr nichts zugetraut wird. Irene traut Duaa so gesehen überaus viel zu.

Wenn die zeitgeschichtlich bewanderte Irene ins Plaudern gerät, nickt Duaa höflich. Ihre Freundin hohen Alters meint es gut, möchte ihrem „Schützling“ Weltwissen näherbringen. Dabei übersieht sie manchmal, dass das sprachliche Verständnis dann doch irgendwo seine Grenzen hat. Die Schriftstellerin erzählt Geschichten, die junge Laborassistentin lauscht angestrengt. Man sieht, dass sie verstehen möchte, ihr Blick verrät, dass das nicht immer der Fall ist. Doch das scheint keine der beiden zu stören. Sie wirken, als hätten sie sich aufeinander eingependelt, egal ob jedes Wort ankommt.

Skepsis ist was für andere

Skeptikerinnen gab es unter Irenes Freundinnen einige. Ob die junge Frau nicht doch Probleme machen könnte? Oder womöglich nie wieder aus der Wohnung weg wolle? Wie mühsam das alles werden könnte! Ängste, die Irene nicht teilt. Im Gegenteil. 

Doch ganz so selbstverständlich ist dieser Akt für die meisten Menschen nicht. Beziehungsweise kommen die meisten erst gar nicht auf die Idee. Und wenn, dann gibt es noch zig Hürden, bevor man tatsächlich aktiv in die Wege leitet, jemanden bei sich einzuquartieren.

Eine irakische Freundin Duaas, die mit ihrem Mann und Kindern in einem aufgelassenen Pfarrhof an der Donau untergebracht sind, fand es schrecklich, dass sie keine Frauengruppe hier hat. Zuhause war sie stets von vielen Frauen umgeben: Schwestern, Tanten, Schwägerinnen, Freundinnen. Hier: niemand. Also aktivierte die "Macherin" und Netzwerkerin Irene M. die umliegenden Gemeinden und vor allem die örtlichen Lehrerinnen: Duaas Freundin sollte Frauen-Besuch bekommen, um sich nicht länger einsam zu fühlen und neue Bande zu knüpfen. Ihres Wissens scheint das ganz gut zu funktionieren.

Beschäftigungsbewilligungen für Asylwerber haben in Österreich Seltenheitswert. In der Theorie erlaubt es das Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) Asylsuchenden, die in Österreich seit drei Monaten zum Asylverfahren zugelassen sind, eine Arbeit aufzunehmen: ausgehebelt wird dieses Recht in der Praxis durch den umstrittenen „Bartenstein-Erlass“ aus dem Jahr 2004. Demnach dürfen sie höchstens sechsmonatigen Saisonarbeiten im Winter- oder Sommertourismus, in der Land- und Forstwirtschaft oder als Erntehelfer nachgehen. Für jedes Bundesland vergibt das Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (BMASK) bestimmte Saisonkontingente. Uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang erhalten sie erst, wenn ihr Asylverfahren positiv entschieden wurde, sie also anerkannt oder subsidiär schutzberechtigt sind.

Eine Möglichkeit, dem gesetzesbedingten Nichtstun zu entkommen, sind gemeinnützige Tätigkeiten, weil dafür keine Arbeitsbewilligung benötigt wird. Das Grundversorgungsgesetz §7 erlaubt dabei diverse freiwillige Hilfstätigkeiten. Ende Oktober präsentierte die Bundesregierung einen vom Innenministerium ausgearbeiteten Leistungskatalog, der exakt 32 mögliche Tätigkeiten spezifiziert. Darunter fiele etwa auch die "Mithilfe im Bereich der öffentlichen Kindergärten“, was für Duaa theoretisch interessant sein könnte. Allerdings beschränkt sich der Einsatzradius auf Reinigung, Küche und Grünpflege. Zur pädagogischen Assistenz bräuchte es eine einschlägige Ausbildung. Bessere Chancen hätte die junge Irakerin voraussichtlich im Gesundheitsbereich: dieser soll beruflich erfahrenen Personen in Form von Hospitationen in Krankenanstalten und Ambulatorien zugänglich gemacht werden.

Welches Resümee zieht Irene nach fast einem Jahr Wohngemeinschaft? Und was wünscht sich Duaa von der Zukunft?

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Duaas Einzug bei Irene

Irene und Duaa erzählen von ihrem Kennenlernen und ihrem Zusammenleben.
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