Wer hat mir meine Kette gestohlen?

  • Story
03. September 2019
Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz sind manchmal schwer nachvollziehbar. Umso notwendiger ist es, hinter die Fassade zu blicken.

Frau Gruber* kommt aufgebracht aus ihrem Zimmer: „Meine Kette ist weg! Meine wertvolle Kette ist weg! Sie wurde gestohlen und ich weiß auch schon von wem. Die Pflegerin von gestern, ich hab sie genau beobachtet, wie sie in meinem Zimmer herumgesucht hat! Ich geh zum Chef, nein besser zur Polizei! Ich zeig sie an!“

Die Szenen wiederholen sich täglich

Lange war Frau Gruber jeden Morgen von derselben Aufregung geschüttelt. Täglich die gleiche Situation, immer das gleiche Thema. Jeden Tag wurden Pflegepersonen des Diebstahls beschuldigt. Beruhigende Worte und gemeinsames Suchen nach der Kette halfen nicht immer – und wenn, dann nur kurzfristig. Immer wieder verschwand die Kette – meist zwischen ihren Kleidungsstücken im Schrank.

Was ist real?

Mehr und mehr rückte Frau Gruber in dieser Zeit in den Teambesprechungen in den Mittelpunkt. Wir haben versucht, die Biographiearbeit zu intensivieren, es wurde ausgelotet, wer aus dem Betreuungsteam einen guten Zugang zur ihr hat, wem sie vertraut.

Aber: Keiner der Versuche, die Dame besser in der Realität zu orientieren, brachte Verbesserung – im Gegenteil: Frau Gruber fühlte sich nicht ernst genommen. Denn der Hinweis, dass die Kette auch davor nie wirklich gestohlen war, und sie auch diesmal gewiss wieder auftauchen würde, verstärkte nur ihre Verzweiflung.

Erst intensive Gespräche mit Bezugspflegekräften brachten den wahren Grund ihrer Aufregung zum Vorschein. Sie erklärten den Zorn, die Trauer um die vermeintlich verlorene Kette: Frau G. hatte sie einst von ihrem geliebten aber schon sehr lange verstorbenen Ehemann geschenkt bekommen.

Gefühle sind real!

In diesen Gesprächen, die mit der Methode der Validation** geführt wurden, kam immer deutlicher die Trauer über den Verlust ihres Ehemannes zum Vorschein. Sie erzählte mehr und mehr davon, wie es für sie war, als er plötzlich ohne Vorwarnung starb, von der Zeit, als sie dann alleine war und davon, wie sehr sie ihn vermisst.

Verlust und Erinnerung

Die Kette spielte dabei eine sehr wichtige Rolle. Frau Gruber hatte Angst davor, dass auch die Kette verschwindet, und somit auch die Erinnerung an ihren Mann verloren geht. Immer und immer wieder sprach sie diesen Gesprächen erst über die verlorene Kette und dann über den verstorbenen Ehemann. Sie war plötzlich viel gesprächiger als sonst. Das vertraute Gespräch mit den Pflegepersonen, denen sie besonders vertraute, war ein sehr wichtiger Teil ihres Alltags geworden.

Ein Zwang löst sich auf

Mit den Wochen wurden die täglichen wütenden Anschuldigungen über den Diebstahl immer weniger. Die Kette „musste“ jetzt nicht mehr verschwinden. Frau Gruber konnte nun über ihren Mann reden und darüber, wie sehr sie ihn vermisst. Darüber, wie schön die Zeit mit ihm gewesen war.

Geborgen sein hilft

Jetzt sprechen auch die Bezugspflegepersonen immer wieder die damalige Zeit an. Sie helfen ihr dabei, die Erinnerung an ihren Mann behalten zu können. Frau Gruber braucht nun keine Panik mehr zu haben, dass sie die Erinnerung an ihn verliert. In den guten Gesprächen kann sie trauern und sich ihren Kummer von der Seele reden. Dabei erfährt sie, wie tief die schöne Erinnerung in ihrem Herzen sitzt. Sie kann ihr keiner nehmen – auch nicht die Demenz. Und das spürt man.

* Der Name der Dame wurde von uns geändert.

Text: Bernadette Mairinger, Diakoniewerk Oberösterreich, Haus für Senioren Mauerkirchen, Leiterin Betreuungs- und Pflegedienst

Eine ältere Frau und Enkelkind lachen gemeinsam.
Für ein gutes Leben mit Demenz. / © Nadja Meister
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