Eine Welt, in der Leben leben kann

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09. September 2022
Wen die Sehnsucht nach einer Welt, in der Leben leben kann, packt, will an ihr mitbauen. Diakonisches Handeln ist dieser Sehnsucht verpflichtet.

„Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise. Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben.“ (1 Mose 1,29f)

Dieser Vers steht im so genannten ersten Schöpfungsbericht im Alten Testament. Er geht fast unter zwischen all den bekannten und bedeutungsschweren Versen um ihn herum. Da ist die Rede von der Erschaffung der Welt und aller Lebewesen in sechs Tagen, vom siebten Tag, an dem Gott ruhte, vom umstrittenen Auftrag an den Menschen, sich „die Erde untertan zu machen“, vom liebenden Blick, den Gott auf seine Schöpfung wirft und der sieht, dass sie „sehr gut“ ist. Zwischen all diesen großen Themen stehen dieser Vers, der oft überlesen wird, obwohl er eine bemerkenswerte Aussage trifft: Pflanzen und Früchte, grünes Kraut hat Gott Mensch und Tier zur Nahrung gegeben.

Dass alle Tiere und auch der Mensch sich nur von grünem Kraut ernähren, das läuft unserer Erfahrung zuwider – und lief auch der Erfahrung der Menschen zuwider, die diese Worte vor 3000 Jahren aufschrieben. Die Autoren der Schöpfungsgeschichte beschreiben die Schöpfung als eine Welt, die anders ist als die Welt, die sie erleben. Das betrifft nicht nur die Ernährungsgewohnheiten. Das betrifft auch den so genannten Herrschaftsauftrag. Menschen in biblischer Zeit erlebten nicht, dass die Erde ihnen untertan war, im Gegenteil, sie sahen sich den Naturgewalten, Wetter und wilden Tieren ausgeliefert. Der Auftrag, sich die Erde untertan zu machen, ist im Kontext dieser Ohnmachtserfahrung zu lesen.

Im ersten Schöpfungsbericht geht es also nicht um den Urzustand – im Sinne von: So war die Welt ganz am Anfang. Es geht vielmehr um einen Idealzustand der Welt – im Sinne von: So könnte die Welt sein. Dieser Idealzustand ist eine Welt, in der alles Leben leben kann.

Leben kann leben, weil es genug gibt, sodass niemand hungern muss, und weil kein Lebewesen nur dafür da ist, irgendwann sein Leben zu verlieren, um anderen zur Nahrung zu dienen. Die ideale Welt ist so eingerichtet, dass kein Leben nur zu einem Zweck existiert. Das heißt: Jedes Leben ist für sich wertvoll, hat seinen Wert in sich selbst.

Wer diesen Idealzustand kennt, der:die will in einer solchen Welt wohnen. Wer diese Utopie der Schöpfung kennt, den packt die Sehnsucht nach dieser von Gott gemeinten Welt, in der Leben leben kann. Wen die Sehnsucht nach einer Welt, in der Leben leben kann, packt, will an ihr mitbauen.

Diakonische Einrichtungen sind Orte, an denen Leben leben kann. Es ist kein Zufall, dass ökologische und soziale Nachhaltigkeit Geschwister sind.

Maria Katharina Moser, Diakonie Direktorin

Diakonisches Handeln ist dieser Sehnsucht verpflichtet. Diakonische Einrichtungen arbeiten daran mit, dass die Utopie der Schöpfung nicht ortlos bleibt, sondern konkrete Orte bekommt: Alten- und Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und auf der Flucht, Beratungsstellen und Armenwirtshäuser, Kindergärten und Schulen – diakonische Einrichtungen sind Orte, an denen Leben leben kann. Es ist kein Zufall, dass ökologische und soziale Nachhaltigkeit Geschwister sind.

Diakonie und die Bewahrung der Schöpfung beginnen mit einer Vision: der Vision von einer Welt, die gut ist; von einer Welt, in der Leben leben kann. Die Bibel bietet Bilder von einer solchen Welt. Das ist auch eine Einladung, neue Bilder zu zeichnen und zu überlegen, welche Schritte wir setzen können, um eine solche Welt zu gestalten.

Das Titelbild kommt von Christina. Aktuell besucht sie die Volkschule Gumpendorf, ist oft in der Natur und erfindet gerne komplizierte, technische Sachen. Später möchte sie Astronautin werden. „Ich wünschte, dass es mehr Pflanzen gibt und dass keine Tiere gefangen genommen werden. Und dass man nicht viel mit dem Auto fährt. Ich stelle mir vor, dass es mehr Frieden auf der Welt gibt.“

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