Eigene Sprache finden: Die Schreibstätte als Ort zwischen Gedanke und Papier
- News
Was passiert, wenn Gedanken nicht zensiert werden? Wenn Sätze entstehen dürfen, ohne dass jemand sie sofort bewertet oder verbessert? Die Schreibstätte schafft genau diesen Raum. Sie bietet Menschen einen Rahmen, in dem Schreiben nicht Leistung ist, sondern Ausdruck. In dem Worte nicht geprüft, sondern zugelassen werden. Und in dem jede:r eingeladen ist, die eigene Sprache zu entdecken – oft zum ersten Mal.
In dem Moment, wo Gedanken nicht mehr zensiert werden, entsteht die Möglichkeit, sich selbst wirklich zuzuhören.
Clemens Luderer begleitet diese Schreibstätten mit außergewöhnlichem Engagement. Über die Jahre hinweg hat er immer wieder Menschen im Suchtkontext darin bestärkt, ihre Gedanken sichtbar zu machen – nicht durch Therapiegespräche, sondern durch das freie Schreiben. Aktuell finden wöchentliche Schreibstätten an zwei Einrichtungen statt: im Krankenhaus de La Tour in Treffen, das auf Alkohol- und Glücksspielsucht spezialisiert ist, und in der Diakonie Essstörungsklinik in Waiern. In beiden Häusern wird Schreiben zu einem stillen Werkzeug der Selbstermächtigung – wertfrei, frei fließend und ohne Anspruch auf literarische Perfektion.
Im Mittelpunkt steht das sogenannte freie Gedankenschreiben – eine einfache, aber tiefgreifende Technik. Dabei geht es nicht um richtig oder falsch. Nicht um schöne Formulierungen. Sondern darum, Gedanken aus dem Kopf auf das Papier fließen zu lassen, ohne Eingriff, ohne Bewertung. „Rechtschreibung ist bei uns nicht wichtig“, sagt Luderer. „Sie kann sogar blockieren. Wir wollen nicht filtern – sondern schreiben lassen.“
Gerade im Suchtkontext eröffnet das neue Wege. Viele Teilnehmer:innen kommen mit Unsicherheiten: „Ich bin kein Schriftsteller“, hört man oft zu Beginn. Doch genau das spielt hier keine Rolle. Denn in der Schreibstätte zählt nicht, wie etwas gesagt wird – sondern dass es gesagt wird. „Jeder hat eine eigene Sprache“, erklärt Luderer. „Wenn diese sichtbar wird, entsteht etwas – Vertrauen, Selbstwert, Verbindung.“
Die Schreibstätte eröffnet einen nonverbalen Zugang zur inneren Erlebniswelt – das fördert nicht nur Reflexion, sondern auch psychische Entlastung.
Der Effekt ist spürbar: Menschen beginnen, ihre Gedanken nicht mehr zu verstecken, sondern hinzusehen. Das Schreiben wird zu einem Kanal. Ein Ort zwischen Innen und Außen. Zwischen Gefühl und Form. Zwischen Gedanken und Papier. In der Schreibstätte darf alles Platz haben – ein Wort, ein Satz, eine Erinnerung, ein Bruchstück. Und gerade in dieser Offenheit entsteht etwas Bewegendes.
Die Texte, die dabei entstehen, machen sichtbar, was sonst im Verborgenen bleibt. Sie holen Sucht aus der Isolation, ohne Pathos – ehrlich, leise, direkt. Die Schreibstätte bringt Stimmen zum Klingen, die sonst oft ungehört bleiben. Nicht, um zu erklären oder zu rechtfertigen, sondern um zu zeigen: Diese Worte existieren. Und sie haben Gewicht.